Der Verrat
verwenden.«
»Und wenn ich sie nicht zurückgebe? Vorausgesetzt natürlich, dass ich sie überhaupt habe.«
»Dann steigt der Wert der Akte. Die Anklage wegen schweren Diebstahls bleibt bestehen, und wenn die Staatsanwaltschaft schlüssige Beweise liefert und die Geschworenen Sie für schuldig befinden, werde ich Sie verurteilen.«
Die Falten auf seiner Stirn, die Härte seines Blicks und der Ton seiner Stimme ließen wenig Zweifel daran, dass sein Urteil etwas war, das ich besser vermeiden sollte.
»Wenn die Geschworenen Sie wegen schweren Diebstahls schuldig sprechen, werden Sie außerdem Ihre Zulassung als Anwalt verlieren.«
»Ja, Sir«, sagte ich zerknirscht.
Mordecai hörte zu und nahm alles in sich auf.
»Im Gegensatz zu den meisten meiner anderen Fälle spielt die Zeit hier eine wichtige Rolle«, fuhr Richter Kisner fort. »In dem Zivilverfahren könnte man sich dem Inhalt der Akte zuwenden. Die Frage der Zulässigkeit als Beweismittel muss der dafür zuständige Richter beantworten. Ich möchte diese Strafsache erledigt haben, bevor das Zivilverfahren zu weit fortgeschritten ist. Immer vorausgesetzt natürlich, Sie haben die Akte überhaupt.«
»Wie bald?« fragte Mordecai.
»Ich denke, zwei Wochen sollten ausreichen, um Sie zu einem Entschluss kommen zu lassen.«
Dieser Meinung waren wir ebenfalls. Mordecai und ich kehrten in den Gerichtssaal zurück und warteten eine weitere Stunde, in der sich nichts ereignete.
Tim Claussen von der Post erschien in Begleitung einiger Anwälte. Er sah uns, kam aber nicht zu uns herüber. Mordecai stand auf und näherte sich ihm unauffällig. Er erklärte Claussen, es seien zwei Anwälte der Kanzlei Drake & Sweeney - Donald Rafter und ein anderer - anwesend, die vielleicht bereit seien, ein Interview zu geben.
Claussen ging sofort zu ihnen. Man hörte Stimmen von den hinteren Bänken, wo Rafter gewartet hatte. Die drei verließen den Gerichtssaal und setzten ihre Auseinandersetzung draußen fort.
Mein Erscheinen vor Kisner war wie erwartet kurz. Ich bekannte mich nicht schuldig, unterschrieb ein paar Formulare und machte, dass ich wegkam. Rafter war nirgends zu sehen.
»Worüber haben Sie und Kisner gesprochen, bevor Sie mich ins Richterzimmer geholt haben?« fragte ich Mordecai, als wir wieder im Wagen saßen.
»Über das, was er Ihnen gesagt hat.«
»Er ist ein harter Bursche.«
»Er ist ein guter Richter, aber er war viele Jahre Anwalt. Ein Strafverteidiger, und zwar einer der besten. Er hat keine Sympathien für einen Anwalt, der die Akten eines anderen stiehlt.«
»Wenn er mich verurteilt, wie viele Jahre kriege ich dann?«
»Das hat er nicht gesagt. Aber Sie werden eine Weile sitzen müssen.«
Wir standen an einer roten Ampel. Glücklicherweise war ich es, der am Steuer saß. »Na gut, Herr Rechtsanwalt«, sagte ich, »was machen wir jetzt?«
»Wir haben zwei Wochen Zeit und lassen es langsam angehen. Jetzt ist nicht die rechte Zeit für Entscheidungen.«
DREIUNDDREISSIG
In der Washington Post stieß ich auf zwei Artikel beide mit Fotos und an herausgehobener Stelle.
Der erste war in der gestrigen Ausgabe bereits angekündigt worden: die lange Geschichte des tragischen Lebens von Lontae Burton. Die Hauptquelle war Lontaes Großmutter, doch der Reporter hatte auch mit zwei Tanten, einem ehemaligen Arbeitgeber, einer Sozialarbeiterin, einer ehemaligen Lehrerin sowie mit Lontaes Mutter und ihren beiden Brüdern gesprochen, die im Gefängnis saßen. Mit ihrer typischen Hartnäckigkeit und ihren unbegrenzten Mitteln leistete die Zeitung hervorragende Arbeit und sammelte die Fakten, die wir für unseren Fall brauchten.
Die Mutter war bei Lontaes Geburt sechzehn gewesen. Lontae war das zweite von drei Kindern, die allesamt unehelich waren und von verschiedenen Männern stammten, auch wenn die Mutter keine Angaben über den Vater machen wollte.
Lontae wuchs in einer üblen Gegend in Northwest auf. Ihre Mutter zog häufig um, und hin und wieder lebte Lontae bei ihrer Großmutter oder ihren Tanten. Immer wieder musste ihre Mutter ins Gefängnis, und nach der sechsten Klasse ging Lontae nicht mehr zur Schule. Von da an ging es mit ihr, wie nicht anders zu erwarten, bergab. Drogen, Jungen, Banden, kleine Diebstähle - das gefährliche Leben auf der Straße. Sie arbeitete in verschiedenen Mindestlohnjobs und erwies sich als vollkommen unzuverlässig.
Die amtlichen Akten erzählten den Rest der Geschichte: eine Verhaftung mit vierzehn wegen
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