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Der Verrat

Der Verrat

Titel: Der Verrat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Grisham
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bringen. Ich würde irgendwie Zeit finden, Gratisarbeit für Obdachlose zu leisten. Ich würde meine Freundschaft zu Mordecai vertiefen und ihn vielleicht sogar regelmäßig in seinem Rechtsberatungsbüro besuchen. Ich würde gelegentlich bei Miss Dolly vorbeischauen und ihr helfen, die Hungrigen zu speisen. Ich würde für die Armen spenden und helfen, weitere Spenden zu sammeln.
    Jemand, der Geldquellen auftat, war gewiss nützlicher als ein weiterer Armenanwalt.
    Während ich im Dunkeln zur Kanzlei fuhr, kam ich zu dem Schluss, dass ich ein paar Achtzehn-Stunden-Tage brauchte, um meine Prioritäten wieder klar ins Auge zu fassen. Wenn ich mich in die Arbeit stürzte, würde der kleine Knick, den meine Karriere bekommen hatte, bald wieder beseitigt sein. Nur ein Dummkopf würde die Zukunftsperspektive, die sich mir bot, aufgeben.
    Diesmal nahm ich einen anderen Aufzug. Mister war Vergangenheit. Ich sah nicht zu dem Konferenzraum hin, in dem er gestorben war. In meinem Büro legte ich Mantel und Aktentasche auf einem Stuhl ab und holte mir einen Kaffee. Es war noch nicht einmal sechs Uhr morgens, und ich ging mit federnden Schritten durch die Gänge, sprach hier mit einem Kollegen, dort mit einem Gehilfen, zog mein Jackett aus und krempelte die Ärmel hoch - es war eine Freude, wieder hier zu sein.
    Ich blätterte zunächst das Wall Street Journal durch, teils weil ich wusste, dass darin ganz gewiss nichts über erstickte Obdachlose in Washington stand.
    Danach kam die Post an die Reihe. Auf der ersten Seite des Lokalteils standen ein kurzer Artikel über Lontae Burtons Familie und ein Foto der weinenden Großmutter vor dem Hintergrund eines Hochhauses mit Sozialwohnungen. Ich las den Artikel und legte die Zeitung beiseite. Ich wusste mehr als der Reporter und war entschlossen, mich nicht ablenken zu lassen.
    Unter der Post lag ein unscheinbarer Aktendeckel, wie es ihn in der Kanzlei millionenfach gab. Er war allerdings nicht beschriftet und damit ungewöhnlich.
    Er lag einfach da, mitten auf meinem Schreibtisch. Irgend jemand hatte ihn dorthin gelegt. Ich schlug ihn langsam auf.
    Er enthielt nur zwei Bögen Papier: eine Kopie des gestrigen Artikels in der Post, den ich zehnmal gelesen und Claire gezeigt hatte, sowie die Kopie eines Schriftstücks, das aus einer offiziellen Drake & Sweeney-Akte stammte. Die Überschrift lautete: ZWANGSRÄUMUNG - RIVER-OAKS/TAG, INC.
    Links standen untereinander die Zahlen von eins bis siebzehn. Nummer vier war Devon Hardy. Hinter Nummer fünfzehn stand: »Lontae Burton und drei oder vier Kinder.«
    Ich legte das Blatt langsam auf den Tisch, stand auf, ging zur Tür, schloss sie ab und lehnte mich dagegen. Ein paar Minuten vergingen in absoluter Stille. Ich starrte die Liste auf meinem Schreibtisch an. Dass sie stimmte und vollständig war, konnte ich annehmen. Warum hätte sich irgend jemand so etwas ausdenken sollen? Ich nahm die Liste wieder in die Hand und bemerkte, dass mein unbekannter Informant mit Bleistift auf die Innenseite des Aktendeckels geschrieben hatte: »Die Zwangsräumung war illegal und moralisch falsch.«
    Es waren Druckbuchstaben, damit ich auch durch eine Schriftanalyse nicht herausfinden konnte, wer der Verfasser war. Die Schrift war ganz schwach - der Stift hatte kaum die Pappe des Aktendeckels berührt.
    Ich ließ die Tür für eine Stunde verschlossen. In dieser Zeit stand ich am Fenster, betrachtete den Sonnenaufgang, setzte mich dann wieder an den Schreibtisch und starrte die Liste an. Auf dem Gang gingen immer mehr Leute vorbei, und schließlich hörte ich Pollys Stimme. Ich öffnete die Tür, begrüßte sie, als wäre alles in bester Ordnung, und folgte der täglichen Routine.
    Der Vormittag war angefüllt mit Konferenzen und Besprechungen, zwei davon mit Rudolph und Mandanten. Ich hielt mich gut, auch wenn ich nachher nicht mehr wusste, was wir gesagt oder getan hatten. Rudolph war stolz, seinen Star wieder mit voller Kraft arbeiten zu sehen.
    Zu denen, die sich mit mir über die Geiselnahme und ihre Nachwirkungen unterhalten wollten, war ich beinahe grob. Nach außen war ich wieder ganz der alte, arbeitswütig wie immer, und so lösten sich die Bedenken in bezug auf mein seelisches Gleichgewicht in Wohlgefallen auf. Am späten Vormittag rief mein Vater an. Ich konnte mich nicht erinnern, wann er mich zuletzt in der Kanzlei angerufen hatte. Er sagte, in Memphis regne es. Er sitze zu Hause herum und langweile sich, und … na ja, meine Mutter und er

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