Der Verrat
den Händen. Wo waren sie gestern nacht gewesen, als Ontario und seine Familie sich in dem kalten Wagen aneinandergedrängt und das geruchlose Kohlenmonoxid eingeatmet hatten, bis sie davon geschwebt waren?
Wo waren wir anderen alle gewesen?
Die Welt ging den Bach hinunter. Nichts ergab einen Sinn. In weniger als einer Woche hatte ich sechs tote Obdachlose gesehen, und ich hatte nicht die innere Statur, um mit diesem Schock fertig zuwerden. Ich war ein gebildeter weißer Anwalt, wohlhabend und gut ernährt, und steuerte zielstrebig auf echten Reichtum und all die schönen Dinge zu, die er mir bescheren würde. Meine Ehe stand zwar vor dem Ende, aber darüber würde ich schnell hinwegkommen. Es gab so viele schöne Frauen. Ich brauchte mir keine Sorgen zu machen.
Ich verfluchte Mister, der mich aus der Bahn geworfen hatte. Ich verfluchte Mordecai, der mir ein schlechtes Gewissen machte. Und ich verfluchte Ontario, der mir das Herz gebrochen hatte.
Jemand klopfte ans Fenster. Ich schreckte hoch. Meine Nerven waren nicht die besten. Mordecai stand am Rand des Bürgersteigs im Schnee. Ich öffnete das Fenster einen Spaltbreit.
»Er sagt, er macht’s für zweitausend Dollar, alle fünf.«
»Einverstanden«, antwortete ich, und Mordecai ging wieder hinein.
Wenig später kam er zurück, setzte sich ans Steuer und gab Gas. »Der Gottesdienst ist am Dienstag, hier in der Kirche. Holzsärge, aber schöne. Er wird noch Blumen besorgen, damit alles ein bißchen hübsch aussieht. Ursprünglich wollte er dreitausend, aber ich habe ihm gesagt, dass die Presse dabei sein wird und er vielleicht ins Fernsehen kommt. Das hat ihm gefallen. Zweitausend ist nicht schlecht.«
»Danke Mordecai.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Nein.«
Auf dem Weg zu meinem Büro sprachen wir nur sehr wenig.
Bei Claires jüngerem Bruder James war die Hodgkin-Krankheit festgestellt worden
- daher also die Einberufung des Familienrats nach Providence. Es hatte gar nichts mit mir zu tun. Sie erzählte mir von dem Wochenende, von dem Schock, als sie die Nachricht erhalten hatte, von den Tränen und Gebeten, mit denen sie James, seine Frau und sich selbst getröstet hatten. In Claires Familie weinte und umarmte man sich ständig, und ich war ihr dankbar, dass sie mich nicht dorthin mitgeschleppt hatte. Die Behandlung würde sofort beginnen, und die Prognose war gut.
Sie freute sich, wieder zu Hause zu sein und mit jemandem reden zu können. Wir tranken Wein vor dem offenen Kamin, eine Decke über den Füßen. Es war beinahe romantisch, auch wenn ich viel zu mitgenommen war, um auf irgendwelche sentimentale Gedanken zu kommen. Ich gab mir redliche Mühe, ihr zuzuhören, den armen James gehörig zu bedauern und an den richtigen Stellen angemessene Bemerkungen zu machen.
Es war nicht das, was ich erwartet hatte, und ich wusste nicht recht, ob es das war, was ich wollte. Ich hatte gedacht, wir würden ein paar Scheingefechte führen und uns vielleicht sogar einige echte Scharmützel liefern. Bald würde der Streit ernst und heftig werden, aber dann würden wir uns hoffentlich wieder besinnen und wie erwachsene Menschen mit unserer Trennung umgehen. Nach meinem Erlebnis mit Ontario war ich jedoch nicht imstande, mich mit irgendeinem Problem auseinander zusetzen, bei dem Gefühle mitspielten. Ich war ausgelaugt.
Claire sagte mir mehrmals, ich sähe müde aus. Fast hätte ich mich bei ihr bedankt.
Ich hörte ihr aufmerksam zu, und dann kamen wir langsam auf mich und mein Wochenende zu sprechen. Ich erzählte ihr alles: von meinem neuen Leben als freiwilliger Helfer in einer Notunterkunft, von Ontario und seiner Familie. Ich zeigte ihr den Zeitungsartikel.
Sie war ehrlich berührt, aber auch verwirrt. Ich war nicht mehr der, der ich vor einer Woche gewesen war, und sie wusste nicht, ob ihr das neue Modell besser gefiel als das alte. Ich wusste es ebenso wenig.
ELF
Als junge Workaholics brauchten Claire und ich keinen Wecker, schon gar nicht montags morgens, wenn eine ganze Woche voller Herausforderungen auf uns wartete.
Wir standen um fünf Uhr auf, aßen um halb sechs ein Müsli-Frühstück und jagten dann in verschiedene Richtungen davon, als hätte der gewonnen, der als erster das Haus verließ.
Dank des Weins hatte ich schlafen können, ohne von dem Alptraum des Wochenendes heimgesucht zu werden, und auf dem Weg zur Kanzlei beschloss ich, etwas mehr Distanz zwischen mich und die Obdachlosen zu legen. Ich würde die Beerdigung hinter mich
Weitere Kostenlose Bücher