Der Verrat
die aus allen Richtungen auf »RiverOaks« und »Drake & Sweeney«
zielten. Braden Chance, der Teilhaber aus der Abteilung Immobilien, den ich nach der Akte gefragt hatte, bekam die meisten Pfeile ab.
Mein Hauptverdächtiger war sein Gehilfe, der junge Mann, der unseren scharfen Wortwechsel gehört und Chance wenig später, als ich aus seinem Zimmer getreten war, als Idioten bezeichnet hatte. Er kannte sicher alle Einzelheiten des Zwangsräumungsverfahrens und hatte Zugang zu der entsprechenden Akte.
Um eine etwaige Überwachung der Hausleitung zu umgehen, rief ich mit meinem Handy einen Gehilfen in der Abteilung Kartellrecht an, dessen Büro nur wenige Schritte von meinem entfernt war. Er leitete mich an einen anderen weiter, und binnen kurzem hatte ich ohne viel Mühe herausgefunden, dass der Mann, den ich suchte, Hector Palma hieß. Er arbeitete seit etwa drei Jahren bei uns, und zwar ausschließlich in der Immobilienabteilung.
Ich beschloss, mit ihm zu sprechen, allerdings außerhalb der Kanzlei.
Mordecai rief mich an und fragte, ob ich schon irgendwelche Pläne für ein Abendessen hätte. »Ich lade Sie ein«, sagte er.
»Zu einer Suppe?«
Er lachte. »Natürlich nicht. Ich kenne ein hervorragendes Restaurant.«
Wir verabredeten uns für sieben Uhr. Claire befand sich im Chirurgen-Orbit und verschwendete keinen Gedanken an Zeit, Essen oder Ehemann. Sie hatte irgendwann am Nachmittag angerufen, um »mal kurz hallo zu sagen«. Sie habe keine Ahnung, wann sie heimkommen werde, sicher sehr spät. Für das Abendessen war also jeder auf sich selbst gestellt. Ich machte ihr keinen Vorwurf - immerhin hatte sie diesen Lebensstil von mir gelernt.
Wir trafen uns in einem Restaurant in der Nähe des Dupont Circle. Die Bar am Eingang war voller gutbezahlter Regierungstypen, die noch einen Drink nahmen, bevor sie aus der Stadt flohen. Wir setzten uns weiter hinten in eine enge Nische und bestellten etwas zu trinken.
»Die Burton-Story wird groß und größer«, sagte Mordecai und nahm einen Schluck Bier.
»Tut mir leid, aber ich war in den vergangenen zwölf Stunden vollkommen abgeschnitten von der Welt. Was ist passiert?«
»Viel Presse. Eine Mutter und vier tote Kinder in einem Wagen, der ihre Wohnung war. Und das eine Meile vom Capitol Hill entfernt, wo sie gerade dabei sind, das Sozialwesen zu reformieren und noch mehr Mütter auf die Straße zu setzen. Das ist doch mal was.«
»Dann wird die Beerdigung also eine große Veranstaltung werden.«
»Aber ja. Ich hab heute mit einem Dutzend Initiativgruppen gesprochen. Die kommen alle, und sie werden die Leute, die sie betreuen, mitbringen. Die Kirche wird voller Obdachloser sein. Und voller Presseleute natürlich. Vier kleine Särge neben dem der Mutter - das werden sich die Sechs-Uhr-Nachrichten nicht entgehen lassen. Vorher gibt’s eine Kundgebung und danach einen Demonstrationszug.«
»Dann hat ihr Tod vielleicht doch noch etwas Gutes.«
»Vielleicht.«
Als erfahrener Anwalt wusste ich, dass hinter jeder Einladung zum Mittag- oder Abendessen eine Absicht steckte. Mordecai hatte etwas vor, das merkte ich schon daran, wie er mich ansah.
»Haben Sie eine Ahnung, warum sie obdachlos waren?« fragte ich sondierend.
»Nein. Wahrscheinlich das Übliche. Ich hab keine Zeit gehabt, Fragen zu stellen.«
Auf dem Weg hierher war ich zu dem Schluss gekommen, dass ich ihm nichts von dem mysteriösen Aktendeckel und seinem Inhalt sagen durfte. Das war vertraulich, und ich wusste nur davon, weil ich bei Drake & Sweeney arbeitete. Wenn ich ihm gesagt hätte, was ich über die Aktivitäten eines Mandanten in Erfahrung gebracht hatte, wäre das eine schwere Verletzung der Schweigepflicht gewesen. Schon der Gedanke an eine solche Enthüllung machte mir angst. Außerdem hatte ich noch nichts überprüft.
Der Ober brachte unsere Salate, und wir begannen zu essen. »Wir haben heute Nachmittag eine Kanzleikonferenz abgehalten«, sagte er zwischen zwei Bissen.
»Sofia, Abraham und ich. Wir brauchen Hilfe.«
Das überraschte mich nicht. »Was für eine Art von Hilfe?«
»Noch einen Anwalt.«
»Ich dachte, Sie sind pleite.«
»Wir haben eine kleine Reserve. Und eine neue Marketingstrategie.«
Die Vorstellung, dass das Rechtsberatungsbüro in der 14th Street über eine Marketingstrategie verfügte, belustigte mich, und das hatte er auch beabsichtigt. Wir lächelten.
»Wenn ein Anwalt bereit wäre, zehn Stunden pro Woche damit zu verbringen, Spendengelder aufzutreiben,
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