Der Verrat
machten sich Gedanken um mich. Ich sagte ihm, Claire gehe es gut, und um sicheren Boden unter den Füßen zu bekommen, erzählte ich ihm von ihrem Bruder James, dem er nur einmal, bei unserer Hochzeit, begegnet war. Ich sprach mit angemessener Sorge über Claires Familie, und das gefiel ihm.
Mein Vater war froh, dass er mich in der Kanzlei erreicht hatte: Ich war da, verdiente viel Geld und arbeitete darauf hin, noch mehr zu verdienen. Er bat mich, gelegentlich anzurufen.
Eine halbe Stunde später rief mein Bruder Warner aus seinem Büro hoch über der Innenstadt von Atlanta an. Er war sechs Jahre älter als ich und Teilhaber einer anderen Megakanzlei, ein mit allen Wassern gewaschener Prozessanwalt. Wegen des Altersunterschieds waren Warner und ich uns in unserer Kindheit nie sehr nahe gewesen, aber wir kamen sehr gut miteinander aus. Als seine Ehe vor drei Jahren geschieden worden war, hatte er mir wöchentlich sein Herz ausgeschüttet.
Seine Zeit war, wie die meine, nach honorarfähigen Stunden bemessen, und so wusste ich, dass das Gespräch kurz sein würde. »Ich hab mit Dad gesprochen«, sagte er. »Er hat mir alles erzählt.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Ich verstehe, wie du dich fühlst. Wir alle machen das irgendwann mal durch. Man arbeitet schwer, man macht das große Geld und vergisst vollkommen, den kleinen Leuten zu helfen. Dann passiert etwas, und man denkt an seine Studienzeit, an die ersten Semester, als man voller Ideale war und als Rechtsanwalt die Menschheit retten wollte. Weißt du noch?«
»Ja. Ist lange her.«
»Genau. Als ich mit dem Studium angefangen habe, wurde bei uns eine Umfrage gemacht. Über die Hälfte der Erstsemester wollte ihr Wissen in den Dienst des Gemeinwohls stellen. Drei Jahre später, nach dem Abschluss, waren alle nur noch hinter dem Geld her. Ich weiß auch nicht, was da passiert ist.«
»Ganz einfach: Ein Jurastudium macht geldgierig.«
»Wahrscheinlich. In unserer Kanzlei gibt es die Möglichkeit, ein Jahr Urlaub zu nehmen, ein Sabbatjahr sozusagen, und sich mit Musterprozessen für das Gemeinwohl auszutoben. Nach zwölf Monaten kommt man zurück, als wäre nie etwas gewesen. Gibt’s das bei euch auch?«
Typisch Warner. Ich hatte ein Problem - er hatte die hübsche, saubere Patentlösung. Zwölf Monate, und ich wäre ein neuer Mensch. Ein kleiner Umweg, aber meine Zukunft wäre nach wie vor gesichert.
»Nicht für Mitarbeiter«, sagte ich. »Ich hab mal gehört, dass der eine oder andere Teilhaber in irgendeinem Ministerium gearbeitet hat und nach ein paar Jahren wieder in die Kanzlei zurückgekehrt ist. Aber für einfache Mitarbeiter gilt das nicht.«
»Aber dein Fall liegt anders. Du bist traumatisiert und wärst um ein Haar umgebracht worden, bloß weil du bei Drake & Sweeney arbeitest. Ich würde mal ein bißchen auf den Putz hauen und ihnen sagen, dass du Abstand brauchst. Lass dich für ein Jahr beurlauben - danach bist du wieder voll da.«
»Das könnte funktionieren«, sagte ich, um ihn zu beschwichtigen. Er war ein Alpha-Männchen, das anderen immer zusetzte und immer bereit war, sich zu streiten, besonders innerhalb der Familie. »Ich hab jetzt einen Termin«, sagte ich. Ihm ging es nicht anders. Wir versprachen, demnächst wieder zu telefonieren.
Das Mittagessen nahm ich mit Rudolph und einem Mandanten in einem teuren Restaurant ein. Es war ein Arbeitsessen, was bedeutete, dass wir keinen Alkohol tranken und dem Mandanten die Zeit für das Essen in Rechnung stellen würden.
Rudolph kostete vierhundert Dollar pro Stunde, ich dreihundert. Wir aßen und arbeiteten zwei Stunden lang, so dass dieses Mittagessen unseren Mandanten vierzehnhundert Dollar kostete. Die Kanzlei hatte ein Konto bei diesem Restaurant. Das Essen würde also zunächst von Drake & Sweeney bezahlt werden, aber die Erbsenzähler im Untergeschoss würden sicher eine Möglichkeit finden, dem Mandanten auch die Kosten für das Essen in Rechnung zu stellen.
Der Nachmittag bestand aus Telefongesprächen und Konferenzen. Ich setzte mein professionelles Gesicht auf und brachte ihn durch reine Willenskraft hinter mich
- es waren honorarfähige Stunden. Das Kartellrecht war mir noch nie so hoffnungslos stumpfsinnig und langweilig erschienen.
Es war fast fünf Uhr, als ich endlich ein paar Minuten für mich hatte. Ich wünschte Polly einen schönen Abend, verschloss meine Tür, schlug den mysteriösen Aktendeckel auf und machte mir Notizen: Kritzeleien und Diagramme mit Pfeilen,
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