Der Verrat
Gliederschmerzen, Halsschmerzen, Kopfschmerzen? Ja. Sowohl als auch - mir war es egal. Man musste schon sehr krank sein, um die Arbeit liegen zulassen. Polly würde ein Formular ausfüllen und es an Rudolph schicken. Ich musste also mit einem Anruf von ihm rechnen und machte am frühen Morgen einen Spaziergang durch Georgetown. Der Schnee schmolz jetzt rapide dahin, die Tageshöchsttemperaturen würden zwischen zehn und fünfzehn Grad liegen. Ich schlug eine Stunde am Hafen tot, wo ich in verschiedenen Cafes Cappuccinos trank und den frierenden Ruderern auf dem Potomac zusah. Um zehn Uhr machte ich mich auf den Weg zur Beerdigung.
Der Bürgersteig vor der Kirche war abgesperrt. Polizeibeamte gingen auf und ab und hatten ihre Motorräder auf der Straße abgestellt. Ein Stück weiter standen die Übertragungswagen der Fernsehsender.
Als ich vorbeifuhr, lauschte die Menge einem Redner, der in ein Mikrofon brüllte. Einige hielten hastig gemalte Plakate hoch, damit sie gut ins Bild kamen. Nachdem ich drei Blocks weiter in einer Seitenstraße geparkt hatte, eilte ich zurück zur Kirche, vermied aber den Haupteingang und steuerte auf einen Nebeneingang zu, der von einem älteren Mann bewacht wurde. Ich fragte ihn, ob es einen Platz auf der Galerie gebe. Er wollte wissen, ob ich Reporter sei.
Er führte mich hinein und zeigte auf eine Tür. Ich dankte ihm, trat ein, stieg eine wacklige Treppe hinauf und gelangte auf eine Galerie, von der aus man den schönen Kirchenraum überblicken konnte. Der Teppich war dunkelrot, die Bänke waren aus dunklem Holz, die Buntglasfenster waren sauber. Einen Augenblick lang konnte ich verstehen, warum der Pfarrer seine Kirche nicht für Obdachlose öffnen wollte.
Ich war allein und konnte mir meinen Platz aussuchen. Leise ging ich zu einem Platz über dem Portal, von wo aus ich über den Mittelgang bis zur Kanzel sehen konnte. Draußen, auf der Eingangstreppe, begann ein Chor zu singen. Ich saß in der friedlichen, leeren Kirche, und von draußen wehte die Musik herein.
Dann klang sie aus, die Türen wurden geöffnet, und der Ansturm begann. Der Boden der Galerie bebte, als die Trauergemeinde in die Kirche strömte. Der Chor stellte sich hinter der Kanzel auf. Der Pfarrer wies den verschiedenen Gruppen ihre Plätze zu: die Fernsehteams in eine Ecke, die kleine Familie in die erste Bank, die Initiativgruppen und die Obdachlosen in die Mitte. Mordecai war in Begleitung von zwei Männern, die ich nicht kannte. Eine Seitentür wurde geöffnet, und die Gefangenen marschierten herein: Lontaes Mutter und zwei Brüder in blauer Gefängnismontur, an Händen und Füßen gefesselt, aneinandergekettet und von vier bewaffneten Wärtern bewacht. Sie setzten sich in die zweite Reihe, hinter die Großmutter und die wenigen anderen Verwandten.
Als Ruhe eingekehrt war, begann die Orgel, eine leise, traurige Melodie zu spielen. In den Reihen unter mir gab es einen Streit, und alle Köpfe wandten sich um. Der Pfarrer stieg auf die Kanzel und hieß uns aufstehen.
Weiß behandschuhte Angestellte des Beerdigungsinstitutes rollten die Särge durch den Mittelgang und stellten sie, Lontaes in der Mitte, vor dem Altar auf. Der Sarg des Babys war winzig, nicht einmal einen Meter lang. Ontarios, Alonzos und Dantes Särge waren mittelgroß. Es war ein furchtbarer Anblick, und Klageschreie wurden laut. Die Chorsänger begannen zu summen und sich hin und her zu wiegen.
Die Männer stellten Blumengebinde auf, und einen schrecklichen Augenblick lang dachte ich, sie würden die Särge öffnen. Ich war noch nie bei einer Trauerfeier in einer schwarzen Gemeinde gewesen und wusste nicht, was dabei üblich war, aber ich hatte in den Nachrichten Filmberichte von anderen Beerdigungen gesehen, bei denen manchmal der Sarg geöffnet worden war, damit die Hinterbliebenen den Leichnam küssen konnten. Die Geier mit den Kameras standen bereit.
Doch die Särge blieben geschlossen, und so erfuhr die Welt nicht, was ich wusste: dass Ontario und seine Familie sehr friedlich aussahen.
Wir setzten uns, und der Pfarrer sprach ein langes Gebet. Dann kamen ein Solo von Schwester Soundso und eine Schweigeminute. Der Pfarrer las eine Bibelstelle und hielt seine Predigt. Darauf folgte eine Aktivistin von einer Obdachloseninitiative, die Attacken gegen eine Gesellschaft und ihre Politiker ritt, die solche Dinge geschehen ließen. Sie gab dem Kongress und besonders den Republikanern die Schuld, aber auch der Stadt, die nichts unternahm,
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