Der Verrat
sowie den Gerichten und der Verwaltung. Die schärfsten Angriffe aber richteten sich gegen die Oberschicht, gegen die Menschen, die zwar Macht und Geld besaßen, aber nichts für die Armen und Kranken taten. Sie war zornig, rhetorisch geschickt und, wie ich fand, sehr mitreißend, auch wenn Beerdigungen nicht ihr eigentliches Wirkungsfeld zu sein schienen.
Als sie geendet hatte, bekam sie Beifall. Dann wetterte der Pfarrer lange gegen alle, die weiß waren und Geld hatten.
Noch ein Solo, noch mehr Bibelstellen, und dann begann der Chor mit einem Lied, das mir die Tränen in die Augen trieb. Es bildete sich eine Schlange von Menschen, die ihre Hand auf die Särge legen wollten, doch binnen kurzem herrschte ein heilloses Durcheinander. Die Trauernden begannen zu klagen und streckten die Hände nach den Särgen aus. »Macht sie auf«, rief einer, aber der Pfarrer schüttelte den Kopf. Sie drängten sich um die Kanzel und die Särge und schrien und schluchzten, und der Chor legte noch mehr Gefühl in seinen Gesang.
Die Großmutter schrie am lautesten und wurde von den anderen gestreichelt und getröstet.
Ich konnte es nicht glauben. Wo waren all diese Leute in den letzten Monaten von Lontaes Leben gewesen? Die Kinder, die da in den Särgen lagen, hatten zu Lebzeiten nie so viel Liebe erfahren wie jetzt.
Die Kameras schoben sich näher und näher, und mehr und mehr Trauernde brachen unter der Last ihres Schmerzes zusammen. Das Ganze war im wesentlichen Show.
Schließlich sorgte der Pfarrer für Ruhe. Er predigte noch einmal, und im Hintergrund spielte die Orgel. Als er geendet hatte, zog die Trauergemeinde in einer langen Reihe ein letztes Mal an den Särgen vorbei.
Der Gottesdienst hatte eineinhalb Stunden gedauert. Für zweitausend Dollar gar nicht so schlecht. Ich war stolz.
Draußen gab es weitere Ansprachen, und dann begann der Demonstrationszug in Richtung Capitol Hill. Mordecai war unter den Anführern, und als sie um eine Ecke verschwanden, fragte ich mich, bei wie vielen Märschen und Demonstrationen er schon mitgemacht hatte. Seine Antwort hätte wahrscheinlich gelautet: »Bei zu wenigen.«
Rudolph Mayes war im Alter von dreißig Jahren Teilhaber von Drake & Sweeney geworden - ein noch immer ungebrochener Rekord. Und wenn sein Leben weiterhin wie geplant verlief, würde er eines Tages der älteste aktive Teilhaber sein.
Die Juristerei war sein Leben, das konnten seine drei geschiedenen Frauen bezeugen. Alles andere, was er anfasste, geriet ihm zur Katastrophe, doch als Teammitglied in einer großen Kanzlei war Rudolph unübertroffen.
Er empfing mich um sechs Uhr abends in seinem Büro, hinter einem Berg von Akten.
Polly und die anderen Sekretärinnen waren gegangen, ebenso wie die meisten anderen Bürokräfte und Gehilfen. Nach halb sechs nahm der Verkehr auf den Gängen deutlich ab.
Ich schloss die Tür und setzte mich. »Ich dachte, Sie seien krank«, sagte er.
»Ich kündige, Rudolph«, sagte ich so entschlossen wie möglich. Dennoch hatte ich ein flaues Gefühl im Magen.
Er schob ein paar Bücher beiseite und schraubte die Kappe auf seinen teuren Füllhalter. »Ich höre.«
»Ich kündige. Ich habe ein Angebot von einer Kanzlei, die für Bedürftige arbeitet.«
»Seien Sie nicht töricht, Michael.«
»Ich bin nicht töricht. Ich habe es mir gut überlegt. Und ich möchte möglichst wenig Staub aufwirbeln, wenn ich gehe.«
»In drei Jahren sind Sie Teilhaber.«
»Ich habe ein besseres Angebot.«
Darauf fiel ihm keine Antwort ein. Er verdrehte entnervt die Augen. »Jetzt hören Sie schon auf, Mike. Sie werden sich doch von so einem Zwischenfall nicht aus der Bahn werfen lassen.«
»Ich bin nicht aus der Bahn geworfen, Rudolph. Ich wende mich nur einem neuen Betätigungsfeld zu.«
»Keine von den anderen acht Geiseln reagiert so extrem.«
»Na prima. Es freut mich für sie, dass sie mit ihrem Leben zufrieden sind.
Außerdem sind sie allesamt Prozessanwälte, eine seltsame Gattung.«
»Wohin wollen Sie gehen?«
»In ein Rechtsberatungsbüro in der Nähe des Logan Circle. Die Mandanten sind hauptsächlich Obdachlose.«
»Obdachlose?«
»Ja.«
»Wie viel zahlen die Ihnen?«
»Ein Vermögen. Wie war’s mit einer Spende?«
»Sie sind verrückt.«
»Es ist bloß eine kleine Krise, Rudolph. Ich bin erst zweiunddreißig, zu jung für eine echte Midlifecrisis. Ich hab mir gedacht, ich bringe meine lieber früh hinter mich.«
»Nehmen Sie einen Monat Urlaub. Arbeiten Sie mit
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