Der Verrat
irgendwelche Unterlagen entnommen, ohne das im Journal zu vermerken. Allerdings hatte ich immer darauf geachtet, diese Unterlagen wieder einzuheften. Wenn ein Dokument im Journal eingetragen war, musste es in der Akte aufzufinden sein.
Das Geschäft wurde am 31. Januar, einem Freitag, abgewickelt. Am darauffolgenden Dienstag kehrte Hector zum Lagerhaus zurück, um die Hausbesetzer auf die Straße zu setzen. Er wurde von einem Angestellten eines privaten Sicherheitsdienstes, einem Polizisten und vier harten Jungs von einer Räumungsfirma begleitet. Laut seiner zwei Seiten umfassenden Aktennotiz dauerte die Aktion drei Stunden. Hector hatte versucht, seine Gefühle zu verbergen, doch es wurde deutlich, dass Zwangsräumungen nicht nach seinem Geschmack waren.
Mein Herz stockte, als ich las: »Die Frau hatte vier Kinder, eins davon im Säuglingsalter. Die Familie lebte in einer Zwei-Zimmer-Wohnung ohne sanitäre Installationen und schlief auf zwei Matratzen auf dem Boden. Während die Mutter dem Polizisten Widerstand leistete, sahen die Kinder zu. Die Wohnung wurde schließlich geräumt.«
Also hatte Ontario gesehen, wie seine Mutter sich gegen den Polizisten gewehrt hatte.
Eine Liste der Betroffenen war beigefügt. Es waren siebzehn Namen, die Namen der Erwachsenen - dieselbe Liste, die man mir am Montag morgen zusammen mit einer Kopie des Artikels in der Washington Post auf den Schreibtisch gelegt hatte.
Am Ende der Akte waren die Räumungsaufforderungen an die siebzehn Betroffenen eingeheftet. Sie waren weder im Journal eingetragen noch benutzt worden.
Hausbesetzer hatten keinerlei Rechte, nicht einmal das auf eine Benachrichtigung. Die Aufforderungen waren im Nachhinein eingefügt worden, um die Sache zu vertuschen. Wahrscheinlich waren sie nach dem Mister-Vorfall von Chance höchstpersönlich dort plaziert worden, für den Fall, dass er sie brauchte.
Die Manipulation war offenkundig und dumm. Andererseits war Chance Teilhaber.
Dass ein Teilhaber eine seiner Akten dem Vorstand hatte vorlegen müssen, war noch nie vorgekommen.
Sie war auch nicht vorgelegt, sondern gestohlen worden. Das war eine kriminelle Handlung, und man war dabei, Beweismaterial zu sammeln. Der Dieb war ein Idiot.
Vor sieben Jahren, als ich eingestellt worden war, hatte ein privater Sicherheitsdienst meine Fingerabdrücke genommen. Es würde ein leichtes sein, sie mit denen an Chances Aktenschrank zu vergleichen. Das würde nur wenige Minuten in Anspruch nehmen, und ich war sicher, dass man es bereits getan hatte.
Würde man einen Haftbefehl gegen mich erlassen? Es war unvermeidlich.
Nach drei Stunden hatte ich die Akte, deren Inhalt den ganzen Boden des Zimmers bedeckte, durchgearbeitet. Sorgfältig heftete ich alles in der richtigen Reihenfolge wieder ein. Dann fuhr ich zum Rechtsberatungsbüro und kopierte alles.
Auf dem Zettel stand, sie sei einkaufen gegangen. Wir hatten schönes Gepäck, ein gemeinsamer Besitz, den wir bei unserer Aufteilung gar nicht berücksichtigt hatten. Claire würde in der näheren Zukunft häufiger verreisen als ich, und darum nahm ich das billigere Zeug: eine Reisetasche und ein paar kleinere Sporttaschen. Ich wollte nicht mit ihr zusammentreffen, und so warf ich die Grundausstattung auf das Bett: Socken, Unterwäsche, T-Shirts, Waschzeug und Schuhe, allerdings nur die, die ich im Lauf des vergangenen Jahres getragen hatte. Mit den anderen konnte sie machen, was sie wollte. Danach räumte ich rasch die Schubladen und meine Hälfte des Badezimmerschränkchens aus. Ich litt körperliche und seelische Qualen, als ich die Taschen nach unten trug, im Mietwagen verstaute und wieder hinaufging, um meine Anzüge zu holen. Ich stieß auf meinen alten Schlafsack, den ich vor mindestens fünf Jahren zum letzten Mal benutzt hatte, und lud ihn, eine Bettdecke und ein Kopfkissen in den Wagen.
Außerdem hatte ich Anrecht auf einen Wecker, ein Radio, einen tragbaren CD-Spieler und ein paar CDs, den kleinen Fernseher auf der Küchentheke, eine Kaffeekanne, einen Fön und einen Satz blauer Handtücher.
Als der Wagen voll war, schrieb ich auf einen Zettel, ich sei ausgezogen, und legte ihn neben ihren. Ich las ihn nicht noch einmal durch. Meine Gefühle waren gemischt und lauerten dicht unter der Oberfläche, und ich war im Augenblick nicht imstande, mich mit ihnen auseinander zusetzen. Ich war noch nie aus einer gemeinsamen Wohnung ausgezogen und wusste nicht, wie man das machte.
Ich schloss die Tür und ging die Treppe
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