Der Verrat
Umgebung auszukundschaften. Sie gehorchten. Als sie wieder an der Tür erschienen, schüttelten sie die Köpfe und gaben Sano damit zu verstehen, dass sie kein Anzeichen einer Bedrohung entdeckt hatten. Auf eine Geste Sanos öffneten sie die Tür und leuchteten mit den Laternen in das finstere Innere des Hauses. Im flackernden Licht war ein enger, leerer Flur mit niedrigen Deckenbalken zu sehen. Sano nickte, worauf die Soldaten das Haus betraten und langsam vorangingen. Sano, Hirata und die Ermittler folgten ihnen über den langen, leeren Gang, dessen Bodenbretter unter ihren Schritten knarrten und ächzten. Das Licht der Laternen ließ die Schatten der Männer auf den papierenen Wänden tanzen. Sano atmete tief durch die Nase, um festzustellen, ob er den Geruch einer Gefahr wahrnehmen konnte, doch sein Geruchssinn war von der Kälte betäubt: Er roch überhaupt nichts.
»Hier ist niemand«, sagte Hirata und bestätigte damit Sanos Wahrnehmungen.
Plötzlich erklang ein huschendes Geräusch. Sano stockte das Herz, und seine Männer zuckten zusammen. Ihre Hände fuhren zu den Schwertgriffen. Blitzschnell schwenkte einer der Soldaten seine Laterne in einen Türeingang. Im flackernden Licht war eine Küche zu sehen, die mit einem gemauerten, gipsverputzten Herd und Holzregalen ausgestattet war, auf denen Töpfe, Pfannen und anderes Kochgeschirr standen. Ansonsten war die Küche leer, sodass der Laut, den die Männer gehört hatten, vermutlich von Ratten oder anderem Getier stammte, das auf der Suche nach Fressbarem war. Die Männer stießen erleichtert den Atem aus. Doch kaum bewegten sie sich zur Tür des gegenüberliegenden Zimmers, schrillte ein Alarm in Sanos Innerem auf und signalisierte Gefahr.
Der Fußboden des Zimmers war mit Tatami-Matten bedeckt; in einer Vase im Alkoven steckten getrocknete Blumen. Auf einem Tisch erblickten die Männer einen Grillenkäfig, einen Sakekrug und einen Fächer – Erinnerungen an den vergangenen Sommer. Auf einer Truhe aus Lackarbeit lagen ein paar Blätter. Hirata schob sie zusammen und reichte sie Sano.
Es waren Notenblätter, die Fujios Unterschrift trugen.
Blieb noch ein Zimmer. Als die Männer sich der Tür näherten, wurde Sano von eisiger Furcht gepackt, und seine Schritte wurden langsamer. Was immer er hier finden würde – er würde es in diesem letzten Zimmer entdecken.
Vom Türeingang aus sah er, dass das beengte Zimmer so verlassen und leblos war wie der Rest des Hauses. Ein weißes Moskitonetz aus Musselin hing von der Decke über einem Futon, auf dem etwas lag, das auf den ersten Blick wie ein großes Bündel Stoff aussah – bis Sano die reglose Hand erblickte, die aus einem Ende des Bündels ragte und durch das Moskitonetz zu greifen schien. Die verkrampften Finger waren krallengleich nach innen gekrümmt. Das Bündel war der Körper eines schlanken Menschen mit sanft gerundeten Formen – der Körper einer Frau, der ausgestreckt auf dem Futon lag. Dass er in diesem abgeschiedenen Haus in bitterer Kälte so regungslos dalag, konnte nur eines bedeuten.
»Gnädige Götter«, sagte Sano, eilte mit seinen Leuten in das Zimmer und schlug das Moskitonetz zur Seite.
Die Männer stießen entsetzte Schreie aus.
Die Leiche war kopflos, der Hals ein hässlicher Stumpf aus rohem Fleisch, geronnenem Blut und zerhackten Knochen. In der Erinnerung hörte Sano eine mädchenhafte Stimme sagen: »Sie trug einen schwarzen Kimono, der mit einem Muster aus lila Wisterienblüten und grünen Ranken bedruckt war.« Die Kleidung der toten Frau entsprach genau dieser Beschreibung, die Chidori gegeben hatte, die kamuro im Owariya.
»Wisterie!«, stieß Sano erschüttert hervor.
Reiko lag im Bett. Stunden nachdem Sano und seine Leute sich auf den Weg zu Fujios Haus gemacht hatten, war sie in unruhigen Schlaf gefallen. Nun drang das Geräusch leiser Schritte auf dem Flur durch Reikos leichten Schlummer in ihr Bewusstsein. Plötzlich hellwach, fuhr sie hoch, den Atem angehalten, die Augen in der Dunkelheit des Zimmers weit aufgerissen.
Reiko wusste, dass Sanos Anwesen gut bewacht wurde, doch seit ihren Erlebnissen beim Kampf gegen die Sekte der Schwarzen Lotosblüte riefen nächtliche Geräusche Panikanfälle bei ihr hervor. Sie griff nach dem Dolch, der neben ihrem Bett lag. So leise sie konnte, bewegte sie sich über den Flur, schaudernd vor Furcht und Kälte. Aus dem Schlafgemach fiel Lampenlicht; im Innern des Zimmers bewegte sich eine schattenhafte menschliche Gestalt. Als
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