Der Verrat
dass er sich einen weiteren unversöhnlichen Feind geschaffen hatte. »Ich werde nicht zulassen, dass mein Gerichtssaal durch Blutvergießen besudelt wird«, sagte er. Auf eine Geste von ihm nahmen seine Wachen die Hände von den Waffen und ließen Nitta los, der schwer zu Boden fiel. »Wenn Ihr unbedingt wollt, sōsakan-sama , könnt Ihr seinen Tod gewaltsam verhindern. Aber ich rate Euch dringend, Euch diesen Schritt sehr genau zu überlegen! Noch könnt Ihr zurück.«
Totenstille hatte sich im Gerichtssaal ausgebreitet, während Sano über die möglichen Folgen seines Handelns nachdachte. Den gefangenen Nitta selbst in Gewahrsam zu nehmen, schien ihm die einzige Möglichkeit, sich die Zeit zu verschaffen, die er brauchte, um den Fall zu lösen. Aber er musste mit schweren Vorwürfen rechnen, einen Dieb und Verräter beschützt zu haben. Sano wusste, es stand viel mehr zur Debatte als die Frage, ob er die Macht besaß, die Beschlüsse Magistrat Aokis zu übergehen, denn dass er sich einer Entscheidung des Gerichts widersetzte, würde ihn als Gegner des Rechts und der Gerechtigkeit brandmarken, seine Treue gegenüber dem bakufu in Frage stellen und seinem Ruf schweren Schaden zufügen.
Der Schatzminister war nach Recht und Gesetz des Mordes am Erben des Shōgun schuldig gesprochen, deshalb würden viele Nitta für den wahren Täter halten. Sollte auch der Shōgun dieser Meinung sein, musste Sano damit rechnen, dass er verbannt, wahrscheinlich sogar hingerichtet würde. Und selbst wenn der Shōgun Reiko und Masahiro verschonte, würden sie beide Sanos Schande teilen. Ihr Leben wäre ruiniert.
Und das alles um Schatzminister Nittas willen, der sich letztendlich vielleicht doch als der wahre Mörder erwies …
Zorn loderte in Sano auf, zugleich überkam ihn ein Gefühl der Hilflosigkeit. Er blickte seine Ermittler an und schüttelte resigniert den Kopf, worauf die Männer zur Seite traten. Mit einem Ausdruck hämischen Triumphs beobachtete Magistrat Aoki, wie Schatzminister Nitta von seinen Wachmännern aus dem Gerichtssaal geführt wurde.
20.
S
chatzminister Nitta hat seppuku begangen?«, fragte Hirata.
Sano nickte betrübt. »Die Nachricht ist amtlich.« Seit dem Ende der Gerichtsverhandlung waren ungefähr zwei Stunden vergangen. Nun saßen Sano, Reiko und Hirata in Sanos Schreibstube. Reiko schenkte ihnen heißen Tee ein.
»Wie soll es nun weitergehen?«, fragte sie.
»Das Beste wäre, wenn ich den Shōgun dazu bringen könnte, dass er mich die Ermittlungen fortführen lässt, bis ich beweisen kann, dass Nitta tatsächlich der Mörder war oder dass Magistrat Aoki einen Fehler begangen hat.« Sano nippte am Tee; die heiße Flüssigkeit brannte ihm in Mund und Kehle. »Das Schlimmste wäre, wenn der Shōgun zu der Ansicht gelangt, ich hätte einen Fehler gemacht, meine Pflicht nicht erfüllt und den bakufu beleidigt.«
Sano brauchte nicht zu erklären, welche Folgen das für ihn selbst, aber auch für Reiko und Hirata hätte, ihre Mienen ließen erkennen, dass sie es wussten.
»Aber was auch kommen mag, wir werden eine Zeit lang abwarten müssen«, fuhr Sano fort. »Der Shōgun ist krank und hat Anweisung erteilt, nicht gestört zu werden. Ich habe einen Bericht geschrieben, in dem ich schildere, was ich während und nach der Gerichtsverhandlung getan habe, und diesen Bericht beim persönlichen Schreiber des Shōgun hinterlassen. Doch Magistrat Aoki wird ebenfalls einen Bericht geschickt haben. Deshalb müssen wir warten, bis es dem Shōgun besser geht, und hoffen, dass ihm meine Version der Ereignisse besser gefällt als Aokis, wenn er die Berichte liest.«
Eine bedrückte Atmosphäre breitete sich im Zimmer aus, als die drei nach Sanos Worten schweigend beisammensaßen, die dampfenden Teeschalen in den Händen. Um die düstere Stimmung ein wenig aufzuhellen, sagte Sano: »Vorerst jedenfalls werden wir die Ermittlungen so weiterführen wie bisher. Ich habe einige neue Spuren.« Er erzählte von den vielen Beamten, die ihn besucht hatten, um die Gelegenheit zu nutzen, ihre Feinde in Misskredit zu bringen. »Kann sein, dass die Aussagen nichts als Lügen sind, aber wir werden ihnen nachgehen müssen. Was habt Ihr heute herausgefunden?«
»Ich konnte keinen Hinweis auf Wisterie oder ihren Geliebten aus Hokkaido entdecken«, sagte Hirata, den Kopf gesenkt. »Sie waren weder in den Teehäusern in Suruga noch in den Nudelhäusern in Fukagawa – ich habe sie alle überprüft. Allmählich frage ich mich,
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