Der Verrat
nördlich von Edo führte. Die Männer ritten über eine gewundene Fernstraße, die entlang der bewaldeten Hügelhänge führte. Ein eisiger Wind riss den Rauch ihrer Lampen und die weißen Wölkchen ihres kondensierten Atems mit sich fort. Die Hufe der Pferde dröhnten auf dem harten Boden der Straße, über den seit dem vergangenen Sommer – als wie jedes Jahr viele Einwohner Edos in den Hügeln Zuflucht vor der Hitze gesucht hatten – nur wenige Reisende gezogen waren. Das kalte Feuer des Sonnenuntergangs brannte über den kahlen Bäumen, und kleine Schneefelder leuchteten rosa im letzten Licht des Tages. Am Himmel, der rasch dunkler wurde, stieg ein strahlender silberner Halbmond empor, vor dem zarte Wolkenschleier dahinzogen und der inmitten der Sterne eingebettet zu sein schien.
»Als ich Fujio damals sagte, ich wolle sein Haus durchsuchen, hatte ich das Gefühl, dass er irgendetwas zu verbergen hatte«, sagte Sano zu Hirata. »Vielleicht sollte ich nicht erfahren, dass er außer seinem Haus in Imado, in dem er wohnt, dieses zweite Haus in den Hügeln besitzt. Aber warum?«
»Ich hoffe nur, wir finden etwas, das uns weiterhilft«, meinte Hirata.
Doch beide waren misstrauisch, was die geheimnisvolle Nachricht betraf. Bevor sie die Stadt verlassen und sich auf diese Reise begeben hatten, hatten sie herauszufinden versucht, wer den Brief geschickt haben könnte. Er war bei den Wächtern am Haupttor abgegeben worden, die das Schreiben dann einem der Palastboten ausgehändigt hatten. Die Torwächter hatten lediglich erklärt, den Brief von einem Mann bekommen zu haben, konnten aber keine näheren Angaben zu diesem Unbekannten machen, da sie täglich sehr viele Briefe von sehr vielen Personen entgegennahmen.
Der Brief war auf billigem, gewöhnlichem Papier geschrieben, und die Handschrift war Sano unbekannt. Deshalb bestand die Möglichkeit, dass der Brief gefälscht war, doch Sano und Hirata konnten sich nicht erlauben, die Mitteilung zu ignorieren.
Der Sonnenuntergang verblasste zu einem dünnen, rosafarbenen Streifen am Horizont, dann senkte sich die Dämmerung über das Hügelland. Kurz darauf erblickte Sano den schattenhaften Umriss eines kleinen Hauses mit spitzem Dach und vorstehender Veranda, das sich an einen Hügelhang in der Nähe schmiegte. »Da ist es!«, rief er seinen Gefährten zu.
Von zwei Wachsoldaten begleitet, stiegen die Männer am Beginn eines schmalen und steilen Pfades von den Pferden. Sano gab die Tiere bei dem dritten Soldaten in Obhut, dann stieg er gemeinsam mit Hirata, seinen Ermittlern und den zwei anderen Soldaten den Pfad hinauf. Die Kälte nahm zu, und enge Biegungen des Pfades verwehrten immer wieder den Blick auf dessen weiteren Verlauf. Die dichten Bäume und das Unterholz beschränkten das Licht der Laternen auf einen kleinen Bereich, in dessen Zentrum sich Sano und seine Leute voranbewegten. Im Wald ringsum rührte sich nichts, die einzigen Geräusche waren die Schritte der Männer auf dem felsigen Untergrund, ihr keuchendes Atmen und das Plätschern eines Baches in der Ferne.
Sano musste an die vielen heimtückischen Angriffe denken, die ihm gegolten hatten, seit er zum sōsakan-sama ernannt worden war. Wollte auch der unbekannte Überbringer des Briefes ihn in einen Hinterhalt locken?
Abrupt endete der Pfad auf einer Lichtung. Und da stand das Haus vor ihnen – ein ungepflegtes kleines Gebäude, bei dem es sich um ein gewöhnliches Sommerhaus zu handeln schien. Doch in Sanos Innerem breitete sich Unruhe aus. Er spürte Gefahr.
»Seid vorsichtig«, raunte er seinen Männern zu.
Die Soldaten gingen voraus und schwenkten vorsichtig die Laternen, als sie sich langsam durch das kniehohe Gras bewegten, das unter ihren Schritten raschelte. Sano und Hirata folgten, während die Ermittler den Schluss bildeten, wobei sie die Blicke wachsam über das Gelände schweifen ließen und nach Anzeichen einer Bedrohung Ausschau hielten. Der Wind war abgeflaut, sodass das Rauschen der Bäume verstummt war; nur das Plätschern des Baches war noch zu vernehmen. Irgendwo heulte ein Hund oder ein Wolf. Als die Gruppe sich schließlich dem Haus näherte, waren im Licht der Laternen die von Wind und Wetter rissigen Bretter der Außenwände, das Strohdach, die Fenster, deren Läden geschlossen waren, sowie eine Tür zu sehen, die von einem Gewirr aus Efeu und Ranken umwuchert wurde.
Sano blieb lauschend auf der Türschwelle stehen und winkte seinen Männern, das Gebäude zu umrunden und die
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