Der Verrat
neuerliche Mord für den gesamten Fall hatte.
»Alles ist möglich«, sagte Sano widerwillig. »Aber wer außer Fujio konnte wissen, dass Wisterie sich in diesem Haus aufhielt?«
»Vielleicht ein Reisender, der ihr zufällig begegnet war?«, meinte Reiko
»In dieser Jahreszeit sind im Hügelland kaum Reisende unterwegs«, erwiderte Sano, »wenngleich die Möglichkeit besteht, dass Wisterie von Banditen getötet wurde, die Sommerhäuser ausplündern. Doch ihr Tod muss irgendwie mit der Ermordung Mitsuyoshis zu tun haben, und Gleiches gilt für ihren Mörder.«
Reiko hoffte, dass Sano ihr anvertraute, was ihm so spürbar zu schaffen machte, wenn sie ihn dazu brachte weiterzureden, deshalb fragte sie: »Wer könnte Wisteries Tod wünschen? Wer könnte den Wunsch haben, dass Fujio als Schuldiger dasteht?« Als Sano keine Antwort gab, meinte Reiko: »Es könnte die Person sein, die dir diese Nachricht geschickt hat.«
Sano lehnte den Hinterkopf an den Rand des Badezubers, schloss wieder die Augen und stieß zittrig den Atem aus.
Reikos Besorgnis wuchs. »Fühlst du dich nicht wohl?«, fragte sie. »Soll ich dir einen Heiltee kochen?«
Sanos Kehle war wie zugeschnürt, und er schluckte krampfhaft. »Nein. Es geht mir gut.«
»Wenn du lieber alleine sein willst …?« Obwohl es ihr widerstrebte, Sano in seinem angeschlagenen Zustand allein zu lassen, erhob sich Reiko, um das Zimmer zu verlassen.
»Geh nicht.« Mit offensichtlicher Anstrengung schlug Sano die Augen auf, hob den Kopf und blickte sie an. »Wir müssen uns unterhalten.«
Reiko kniete sich wieder hin und wartete voller Unruhe, was Sano ihr zu sagen hatte. Sekunden verstrichen in lastendem Schweigen. Dann sagte Sano: »Vielleicht ist die tote Frau gar nicht Kurtisane Wisterie. Vielleicht war in dem Haus alles nur in Szene gesetzt, um mich in die Irre zu führen.«
»Und der Frau wurde vielleicht deshalb der Kopf abgeschlagen, damit du die Tote für Wisterie hältst«, sagte Reiko, die aber deutlich spürte, dass Sano ursprünglich ein ganz anderes Thema hatte anschneiden wollen. »Aber wenn die Tote nicht Wisterie ist, wer ist sie dann?«
»Ich hoffe, Dr. Ito kann uns die Antwort darauf geben«, entgegnete Sano.
»Lässt das alles die Mordanklage gegen Schatzminister Nitta nicht sehr zweifelhaft erscheinen?«, fragte Reiko.
»Ja. Falls das Opfer tatsächlich Wisterie ist und falls der Mord erst nach Nittas Festnahme verübt wurde, kann er nicht der Täter gewesen sein. Und zwischen Wisteries Verschwinden aus Yoshiwara und der Ermordung Mitsuyoshis besteht eine Verbindung. Falls Nitta also unschuldig an Wisteries Verschwinden ist, dann ist er auch unschuldig an Mitsuyoshis Ermordung.«
Wenngleich dieser Gedankengang Sanos die logische Folge hatte, dass die Ermittlungen weitergeführt werden mussten, wollte seine bedrückte Stimmung nicht von ihm abfallen. »Dabei war ich die ganze Zeit so sicher, dass Wisterie noch am Leben ist«, fügte er hinzu.
Reiko hörte aus Sanos Stimme eine Besorgnis heraus, die persönlicher war, als man es erwarten durfte, wenn es um eine Fremde wie Kurtisane Wisterie ging, die obendrein als Mordverdächtige galt. In Reiko stieg eine unbestimmte, beängstigende Ahnung auf.
Sano zuckte die Schultern. Auf seinem Gesicht spiegelte sich Unsicherheit. »Doch ob dieser Mord nun ist, was er zu sein scheint – es hat keinen Sinn, irgendwelche Schlüsse zu ziehen, solange wir nicht wissen, was Fujio zu unserem Fund zu sagen hat.«
Er stieg aus dem Badezuber. Als Reiko ihn in ein Badetuch hüllte, verbannte sie ihre Empfindungen ins Reich der Einbildung. Bestimmt waren sie auf ihr tief sitzendes Misstrauen zurückzuführen, das die Ermittlungen gegen die Schwarze Lotosblüte in ihr erweckt hatte. Welches Geheimnis Sano auch für sich behielt – das, was Reiko gespürt zu haben glaubte, konnte es nicht sein.
»Lass uns zu Bett gehen und versuchen, den Rest der Nacht zu schlafen«, sagte Sano. »Morgen früh wird Hirata Fujio vernehmen, während ich zur Leichenhalle reite, um mir anzuhören, was Dr. Ito bei der Untersuchung der Toten festgestellt hat. Was wir dabei erfahren, könnte uns helfen, den Shōgun dazu zu bringen, dass er uns die Ermittlungen weiterführen lässt.«
Sanos Gesicht war hager vor Erschöpfung, als er hinzufügte: »Oder auch nicht.«
21.
D
ie Kleinstadt Imado, Wohnort vieler Händler und Arbeiter aus Yoshiwara, lag unweit des Vergnügungsviertels inmitten von Reisfeldern und Sümpfen. Imado
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