Der Verrat
einem nahenden Sturm.
Schließlich nickte Tokugawa Tsunayoshi. »Das klingt … äh, vernünftig«, sagte er. Auch die Ältesten nickten. Als hätten sie ein stummes Zeichen erhalten, senkten sie im Einklang die Köpfe.
Eine Woge der Erleichterung durchdrang Sano, doch sie löschte nicht seine Wut auf alle Anwesenden im Raum. Er hatte die Chance bekommen, sein Leben zu retten – aber das war viel weniger, als er verdient hatte.
Hoshina drehte sich entrüstet zu Yanagisawa um. Der Kammerherr schaute Sano in die Augen. Spiegelten sich Achtung und Anerkennung in Yanagisawas Blick – und eine Spur Vergnüglichkeit? Sano hatte vom Kammerherrn gelernt, wie man den Shōgun beeinflusste. Erheiterte es Yanagisawa, dass Sano ihm ein so guter Schüler gewesen war, dass er ihm gleichkam?
Plötzlich begriff Sano, warum es Yanagisawa nicht interessierte, wer Fürst Mitsuyoshi ermordet hatte – oder ob der Mörder gefasst wurde –, und er sich lieber der Meinung enthielt. Yanagisawas Gedanken galten eher der Zukunft als dem derzeitigen Streit.
An Sano und Hoshina gewandt, hob Tokugawa Tsunayoshi eine Hand. »Ich befehle Euch beiden zu gehen und zu tun, was … äh, sōsakan Sano vorgeschlagen hat. Und Ihr merkt Euch dies.« Er richtete seine blutunterlaufenen Augen auf Hoshina. »Wenn es Euch nicht gelingt, die Schuld Sano -sans zu beweisen, werdet Ihr wegen … äh, Verleumdung bestraft.« Der warnende Blick des Shōgun richtete sich auf Sano. »Und wenn Ihr Eure Unschuld nicht beweist, werdet Ihr für den Mord an meinem Erben hingerichtet.«
26.
E
ine große Menschenmenge drängte sich auf dem Hof von Magistrat Aokis Villa bis auf die Straße. Die Leute redeten aufgeregt miteinander. Hirata, von drei Ermittlern begleitet, musste sich den Weg durchs Tor erzwingen. Menschen rempelten ihn an, als sie die Hälse reckten, um zur Villa zu schauen. Einige junge Männer waren durch ihre bunte, auffällige Kleidung als Unterhalter, Künstler, Anbieter von Liebesdiensten oder andere Angehörige eines zweifelhaften Berufsstandes zu erkennen. Doch zum größten Teil handelte es sich um Frauen. Gemahlinnen von Samurai, in kostbare Seidenkimonos gekleidet und von Wachleuten beschützt, scharten sich um eine eiserne Tonne, in der ein Feuer entzündet worden war, um den Hof zu wärmen. Am äußeren Rand der erwärmten Luft knieten Nonnen mit rasierten Schädeln und sangen Gebete. Hinter ihnen standen bunt gekleidete Ehefrauen und Töchter der Händler. Zu der größten Gruppe vor den Mauern und Gebäuden gehörten Bedienstete, Dienstmädchen aus den Teehäusern und verrufene Weiber. Einige Frauen weinten, andere tuschelten sichtlich beunruhigt. Mehrere doshin sorgten in der Menge für Ordnung.
»Wer sind all diese Leute?«, fragte Hirata einen der doshin , den er kannte.
»Verwandte, Freunde und Verehrer von Fujio, dem hokan «, erwiderte der Polizeibeamte.
Und vermutlich auch seine Geliebten, dachte Hirata, die alle gekommen waren, um bei seinem Prozess Wache zu halten.
Nachdem Hirata das Gerichtsgebäude betreten hatte, sah er Magistrat Aoki und dessen Schreiber bereits vor den Zuschauern auf dem Podium sitzen. Fujio selbst kniete auf dem shirasu . Er trug ein zerlumptes Hanfgewand. Seine Hände und die nackten Füße waren mit Ketten gefesselt. Als hinter Hirata und seinen Ermittlern die Tür zuschlug, drehte Fujio sich um. Sein hübsches Gesicht war von Furcht und Jammer gezeichnet, dennoch schenkte er Hirata ein flüchtiges, tapferes Lächeln.
» Hokan Fujio, Ihr werdet des Mordes an Kurtisane Wisterie angeklagt«, begann Magistrat Aoki.
Für Hirata war es keine Überraschung. Er hatte damit gerechnet, da er wusste, wie überstürzt Aoki den Schatzminister Nitta vor Gericht gestellt hatte. Als er und seine Ermittler nun an einer Seite des Raumes niederknieten, fiel ihm eine Frau auf, die neben Fujio auf dem shirasu kniete. Sie trug ebenfalls ein kratziges Gewand aus Hanf und Ketten an Hand- und Fußgelenken. Ihr graues Haar hing, zu einem Zopf gebunden, auf ihrem schmalen Rücken hinunter. Verzweiflung lag auf ihrem noch immer ansehnlichen Gesicht mit den ebenmäßigen Zügen. Die Frau war Momoko, die yarite von Kurtisane Wisterie. Hirata fuhr zusammen. Warum war die Anstandsdame hier?
»Momoko, Ihr werdet angeklagt, Fujio zu dem Mord angestiftet zu haben.« Magistrat Aokis runzeliges, verdrießliches Gesicht zeigte einen selbstgefälligen Ausdruck. »Darum werdet Ihr zusammen mit dem hokan vor Gericht
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