Der Verrat
jetzt?«, fragte er.
»Sie ist verschwunden«, sagte Hoshina. »Und wie es scheint, hat niemand gesehen, wann sie fortgegangen ist und wohin.«
Sano atmete auf. Er brauchte Wisterie also nicht wiederzusehen; die Vergangenheit konnte begraben bleiben. Doch Sanos Erleichterung wurde bald von Besorgnis verdrängt, als ihm klar wurde, dass ihm mit Wisterie eine wichtige Zeugin fehlte – und eine mögliche Tatverdächtige. War Wisterie so plötzlich verschwunden, weil sie Mitsuyoshi getötet hatte? Sano wusste, wie gefährlich es war, Verdächtigen gegenüber parteiisch zu sein, doch er wünschte sich von Herzen, Wisterie möge sich nicht als Mörderin erweisen.
»Wer hat Wisterie und Fürst Mitsuyoshi zuletzt gesehen?«, fragte er Eigoro.
»Das müsste die yarite gewesen sein«, antwortete der Besitzer des ageya . »Sie heißt Momoko. Soll ich sie holen, Herr?«
Eine yarite war eine Bordellbedienstete, meist eine ehemalige Prostituierte. Sie arbeitete als Anstandsdame der Kurtisanen, lehrte die Anfängerinnen, wie man Männern sexuelle Genüsse bereitete, und sorgte ganz allgemein dafür, dass ihre Schützlinge sich so verhielten, wie die Freier es von ihnen erwarteten. Außerdem zählte es zu den Pflichten einer yarite , die Treffen zwischen einer tayu und deren Kunden zu arrangieren.
»Ich werde mit der yarite sprechen, sobald ich hier fertig bin«, antwortete Sano knapp, denn er bemerkte, dass Hoshina dem Gespräch neugierig lauschte. Der Polizeikommandeur war ein tüchtiger und erfolgreicher Ermittler, dennoch ließ er sich keine Gelegenheit entgehen, sich die Erkenntnisse anderer zu Eigen zu machen und Kapital für sich selbst daraus zu schlagen.
»Hat gestern Nacht noch jemand dieses Gemach betreten?«, fragte Sano.
»Soviel ich weiß … nein, Herr.«
Doch wenn Wisterie das ageya tatsächlich unbemerkt verlassen hatte, war es ebenso gut möglich, dass jemand das Gebäude heimlich betreten und den Mord begangen hatte. Sano zog das Tuch über die Leiche und erhob sich. »Wer hat den Toten gefunden?«
»Momoko«, antwortete der Bordellbesitzer.
»Und wann?«
»Kurz nach Mitternacht, Herr. Momoko kam die Treppe hinuntergerannt und schrie: ›Fürst Mitsuyoshi ist tot!‹«
Dass Momoko die Leiche entdeckt ha t te, war ein Grund mehr, sie zu vernehmen. Vielleicht hatte sie irgendetwas Auffälliges bemerkt. Außerdem hatte sich in manchen Fällen erwiesen, dass derjenige, der das Verbrechen »entdeckt« hatte, in Wahrheit der Täter gewesen war, der auf diese Weise versucht hatte, den Verdacht von sich abzulenken.
Sano kauerte sich hin, um die Kleidungsstücke zu durchsuchen, die auf dem Fußboden lagen: den Umhang, die Hose und den Kimono eines Mannes, die vermutlich dem Opfer gehört hatten, sowie den elfenbeinfarbenen, seidenen Morgenmantel einer Frau. Der Stoff war glatt und weich und verströmte den schweren, süßlichen Geruch eines Duftwassers, den Sano wiedererkannte. Für einen Moment stiegen Erinnerungen an die intimen Stunden, die er mit Wisterie verbracht hatte, in ihm auf.
Er schüttelte diese Gedanken ab und ging zum Schminktisch, der hinter einem Wandschirm stand. Auf dem Tisch lagen ein Spiegel, ein Kamm und Haarbürsten; daneben standen Gefäße mit Puder und Wangenrot. Vor dem Tisch lagen Tücher aus roter Seide und einige Strähnen langen schwarzen Haares auf dem Boden.
Sano wandte sich an Hoshina. »Was habt Ihr unternommen, um Wisterie aufzuspüren?«
»Ich habe meine Leute in Trupps aufgeteilt. Einer durchsucht Yoshiwara, ein anderer das Umland, und der Dritte überwacht die Fernstraße«, erwiderte Hoshina und fügte selbstbewusst hinzu: »Wenn Kurtisane Wisterie noch in der Gegend ist, werde ich sie als Erster finden.«
Womit er durchaus Recht haben konnte, denn er hatte Sano gegenüber einen Vorsprung. Umso wichtiger war es, dass Sano die Kurtisane als Erster fand, denn es war zu befürchten, dass Hoshina sie töten ließ, um eine Täterin vorweisen zu können, noch bevor Wisteries Schuld oder Unschuld erwiesen war.
»Hat Wisterie hier oft Kunden empfangen?«, fragte Sano den Bordellbesitzer.
»Ja, Herr.«
Sano nickte. Also konnte man davon ausgehen, dass Wisterie persönliche Gegenstände hier im Owariya aufbewahrte, anstatt sie bei jedem Besuch eines Kunden für die Nacht mitzubringen: So verfuhren Kurtisanen nur, wenn sie Häuser besuchten, in denen sie selten Freier empfingen.
»Wo ist Wisteries kamuro? «, wollte Sano wissen.
Eine kamuro war ein junges Mädchen, das
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