Der Verrat
schroff.
Sofort hielten die Männer inne, wandten sich Sano zu und verbeugten sich steif, wobei sie ihn mit unverhohlener Feindseligkeit anstarrten. Vor Jahren war Sano ebenfalls yoriki und einer der ihren gewesen, und nun neideten sie ihm seinen Aufstieg in das hohe Amt des sōsakan-sama und behinderten seine Arbeit, wann immer sie konnten.
»Geht«, sagte Sano streng. »Ihr alle.«
Hayashi und Yamaga tauschten einen kurzen Blick mit Polizeikommandeur Hoshina, der im Türeingang stand. Dann wandte Yamaga sich an Sano.
»Ich wünsche Euch viel Glück, sōsakan-sama «, sagte er und fügte in hämischem Tonfall hinzu: »Ihr werdet es brauchen.« Dann verließ er mit Hayashi und den beiden Soldaten das Gemach.
Der Bordellbesitzer zog sich furchtsam in eine Zimmerecke zurück, während Hoshina seinen Widersacher beobachtete und auf irgendeine Regung wartete, doch Sano zügelte sich. Es führte zu nichts, wenn er sich seinen Zorn darüber anmerken ließ, dass seine alten Feinde, die yoriki , nun für seinen neuen Feind Hoshina arbeiteten. Sano ging neben dem Futon in die Hocke und zog das weiße Tuch zurück, das den Leichnam Mitsuyoshis bedeckte.
Der Erbe des Shōgun lag auf dem Rücken, die Arme an den Körper angelegt. Sein bronzefarbener Seidenumhang hatte sich geöffnet, sodass sein muskulöser Oberkörper, sein schlaffes Glied und die lang ausgestreckten Beine entblößt waren. Ein kunstvoll geflochtener Haarknoten am Hinterkopf zierte seinen ansonsten kahl rasierten Scheitel. Aus dem linken Auge ragte ein langer dünner Gegenstand, der wie der Haarschmuck einer vornehmen Dame aussah: zwei lange dünne Nadeln aus schwarzem Lack, die wie eine überlange Gabel aussahen. Das stumpfe Ende war kunstvoll zu einer kleinen Kugel geschnitzt, die ineinander verschlungene Blüten und Blumen darstellte. Aus der Wunde des Toten waren Blut und Wasser gequollen. Es hatte die Nadel, die tief im Auge steckte, rot gefärbt und war über die linke Wange geströmt. Der Augapfel war trüb und verschrumpelt, während das unverletzte Auge ins Nichts starrte. Der Mund des Toten war vor Schmerz und Schock weit aufgerissen, sein Gesicht verzerrt.
Sano zuckte bei dem Anblick zusammen, und sein Magen verkrampfte sich. Zur Übelkeit gesellte sich Furcht, als Sano sich in Erinnerung rief, was er über den Vetter des Shōgun wusste. Fürst Mitsuyoshi, der eines Tages vielleicht Japan regiert hätte, war ein gut aussehender junger Mann gewesen, doch sein Interesse hatte weniger der Politik als einem Leben der Genüsse und Ausschweifungen gegolten. Dennoch war er als hervorragender Kämpfer mit und ohne Waffen bekannt gewesen. Doch es gab keinerlei Anzeichen, dass er sich gegen seinen Mörder gewehrt hatte. Sein Körper roch stark nach Reisschnaps, was darauf schließen ließ, dass er betrunken gewesen war, als der Mörder ihn angegriffen hatte.
»Welche Kurtisane war letzte Nacht bei ihm?«, fragte Sano den Bordellbesitzer.
»Wisterie, Herr.«
Wisterie . Der Name erweckte zwiespältige Gedanken, Gefühle und Erinnerungen in Sano. Er war der schönen Kurtisane bei seinem allerersten Fall begegnet, einem Doppelmord an einer Frau und einem Mann. Wisterie war eine Freundin der Frau gewesen und hatte Sano wichtige Hinweise gegeben, den Mörder zu finden. Bei ihren Begegnungen war Sano dem Reiz der verlockenden tayu schließlich erlegen, und noch immer ließ die Erinnerung an ihre intimen Stunden Erregung in ihm aufsteigen, auch wenn vier Jahre vergangen waren, seit er Wisterie das letzte Mal gesehen hatte.
Hoshina blickte Sano aus schmalen Augen an. »Habt Ihr Wisterie gekannt?«
»Ich habe von ihr gehört«, erwiderte Sano ausweichend, denn aus verschiedenen Gründen sollte niemand erfahren, dass er die Kurtisane kannte und einst ihr Geliebter gewesen war.
Soviel Sano wusste, hatte Wisterie vor vier Jahren, gleich nach ihrer Liebesaffäre, Yoshiwara verlassen. Sano selbst hatte dafür gesorgt, dass ihr die Freiheit geschenkt worden war – als Lohn für ihre Hilfe bei der Aufklärung der Morde. Er hatte Wisterie noch einige Male besucht; dann war die Verbindung abgerissen, weil Sano zunehmend von seinen beruflichen Pflichten in Anspruch genommen worden war. Später war ihm zu Ohren gekommen, dass Wisterie ins Vergnügungsviertel zurückgekehrt sei, doch er hatte nie erfahren, aus welchem Grund. Umso größer war seine Besorgnis, als er nun erfahren musste, dass Wisterie in den Mordfall verwickelt war.
»Wo ist Kurtisane Wisterie
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