Der Verrat Der Drachen: Roman
daran, wer wir sind! Glaubst du wirklich, dass irgendetwas von all dem hier gewöhnlich ist?«
»Ich wünschte, das wäre es.«
»Für Wünsche ist es zu spät«, sagte er.
»Aber was hat das zu bedeuten?«
»Wir reisen in die Wüste, zu den Clans; vielleicht werden wir es dort herausfinden.«
Sie hob den Anhänger hoch, den Balkis ihr geschenkt hatte, und hielt ihn fest.
»Vielleicht«, wiederholte sie leise. In seinen Augen sah sie dieselbe Furcht gespiegelt, die sie selbst immer wieder überkam.
»Du glaubst aber nicht, dass wir es gemeinsam herausfinden werden, nicht wahr?«, sagte sie.
»Ich glaube, wir sind das, wozu Azoths Erbe uns gemacht hat – dagegen können wir nicht mehr ankämpfen, als wir Nebel und Regen aufhalten könnten. Wir müssen nur bereit sein, wenn wir herausfinden, wozu wir geschaffen sind.«
Seine Worte sorgten dafür, dass sie sich zugleich verärgert und nutzlos fühlte. »Ich will einfach nicht glauben, dass wir selbst keine Wahl haben«, sagte sie.
Tallis seufzte und sah den Anhänger um ihren Hals an, sagte aber nur: »Was ist mit deiner Fähigkeit, zu heilen? Hast du Balkis davon erzählt?«
»Nein.«
Er nickte. »Es ist wahrscheinlich besser, wenn du es nicht tust. Komm zurück in die Kuppel. Du siehst müde aus; du solltest dich ein wenig ausruhen.«
»Du auch«, sagte sie, erlaubte ihm aber, ihr einen Arm um die Schulter zu legen, während sie den eigenen um seine Taille schlang und seine tröstliche Gegenwart spürte, als sie zurück zur Kuppel gingen.
Er ließ sie am Eingang zurück und machte kehrt, um Attar aufzusuchen. Shaan versuchte, in seiner Drachenbox ein wenig zu schlafen, aber seine Worte und der Traum wirbelten ihr im Kopf herum wie die Gezeitenströmung über Felsen, und nach einer Weile gab sie auf und stieg zum Dach der Kuppel empor, um nach Tuons Schiff Ausschau zu halten.
Mailun saß an der Dachkante, als Shaan dorthin kam; ein Stück weiter saß Irissa und kaute gedankenverloren auf einem Streifen Dörrfleisch herum. Shaan zögerte, ging dann zu ihrer Mutter und setzte sich neben sie. Mailun sah sie an, als sie sich hinsetzte.
»Dort, wo ich geboren wurde, haben wir nie solche Tage erlebt.« Mailun wies auf den unruhigen Ozean hinaus. »Das Meer meiner Heimat ist oft von Eisschollen bedeckt, die so weiß sind, dass man manchmal eine Augenbinde tragen muss, um es ansehen zu können. Das Wasser ist dunkler als deine Augen, so blau, dass es fast schon schwarz ist. Vielleicht wirst du es eines Tages sehen.«
Shaan war sich nicht sicher, ob sie an einen Ort reisen wollte, der so kalt war, dass das Wasser gefror. »Vermisst du das Eis?«, fragte sie.
»Es war meine Heimat.« Mailuns Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. »Aber ich habe mich an die Hitze der Wüste gewöhnt und sie um ihrer eigenen Schönheit willen schätzen gelernt. Nachts, wenn der Mond hoch am Himmel steht und der Wind sich legt, sieht die Wüste fast wie ein Meer aus – kalt und leer erstreckt sie sich ringsum bis zum Horizont. Der Sand ist fest unter den Füßen, aber er kann so unbarmherzig sein wie Eisschollen … Genau wie die Götter jenes Landes.«
Ihre Stimme hatte einen Unterton angenommen, den Shaan nicht näher erforschen wollte.
»Ich frage mich, wie lange Tallis noch braucht«, sagte sie, aber sie fühlte Mailuns Augen, die sie genau beobachteten, auf sich ruhen.
»Ich habe Rorc alles erzählt; er weiß Bescheid«, sagte Mailun.
»Das hat Tallis mir gesagt.« Shaan hielt den Blick auf den Ozean gerichtet.
»Du solltest dir keine Sorgen machen«, sagte Mailun. »Rorc wird nichts zu dir sagen; das ist nicht seine Art.«
»Ich hätte gedacht, dass er jetzt ohnehin Wichtigeres zu bedenken hätte«, sagte Shaan und spürte, wie eine trockene, raue Hand ihr Knie berührte.
»Willst du mich nach deiner Geburt fragen?«, sagte Mailun.
Shaans Herz krampfte sich zusammen. »Nicht nötig. Tallis hat mir erzählt, was geschehen ist.«
»Er hat dir erzählt, was ich ihm erzählt habe, aber das ist nicht dasselbe. Ich werde warten, bis du mich fragst, wenn du bereit bist. Das schulde ich dir.«
Shaan spürte eine plötzliche Aufwallung von Zorn und veränderte ihre Haltung so, dass Mailun die Hand zurückzog.
Sie lächelte schmerzlich. »Du bist wütend.«
»Nein.«
»Es ist nur recht und billig, dass du es bist, aber es hat mir immer leidgetan, dass ich in jener Nacht nicht den Mut hatte, den Anführer herauszufordern und die Erlaubnis zu verlangen, dich zu
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