Der Verrat Der Drachen: Roman
deswegen brauchen sie dich vielleicht mehr denn je.«
»Und ich werde tun, was ich kann.« Anscheinend störte sie die Vorstellung, dass er sterben könnte, nicht. »Aber ich muss eine Armee organisieren und gegen einen Gott kämpfen; bitte verlange nicht mehr von mir, als ich geben kann.«
»Nein, das würde ich nicht tun wollen.« Sie hob die Laterne auf. »Ich hoffe, du findest, während wir zu den Clans unterwegs sind, etwas Zeit, den Mann, zu dem dein Sohn geworden ist, und die Frau, die deine Tochter ist, schätzen zu lernen – sonst wirst du deiner Liste nur einen weiteren Kummer hinzufügen können, Rorc.« Ihre blauen Augen bedachten sein Gesicht mit einem vernichtenden Blick; dann wandte sie sich ab und nahm das Licht mit.
Er sah ihr nach; ihre schlanke, aufrechte Gestalt, die er nie ganz vergessen hatte, ließ einen solchen Schmerz durch ihn zucken, dass er sich wünschte, die Kämpfe hätten auf der Stelle beginnen können. Wie anders wäre alles geworden, wenn er geblieben wäre? Er dachte einen Moment darüber nach, gab sich dem strahlenden Traum hin, mit Mailun eine Familie zu gründen, wie er es einst erhofft hatte, aber sein praktisch veranlagter Kern wusste es besser. Solche Hirngespinste waren etwas für Kinder: Sie wären alle zu Tode gekommen. Alle. Die Clansmänner, die auf der Jagd nach ihm gewesen waren, hätten nicht davor zurückgeschreckt, sie zu töten. Khafre hatte Rorc nicht geglaubt, als er ihm zu sagen versucht hatte, dass er nicht derjenige gewesen sei, der seine Schwester geschändet hatte, nicht derjenige, der sie getötet hatte. Khafre hatte ihm nicht geglaubt, und auch der Kreis nicht. Er hatte seinen Clan verlassen und gewusst, dass Khafre ihn vielleicht eines Tages einholen würde.
Er starrte hinaus in die dunkle Nacht, roch den Duft nach Meersalz in der Luft, sah die Lichter der Stadt unter sich und rieb sich die Hände langsam an den rauen Seiten seiner Hosen ab, wie er es vor so vielen Jahren getan hatte, rieb sich den Geist von Khafres Blut und dem der anderen, die er zu Kaa geschickt hatte, von den Händen. Er hatte schon eine ganze Weile nicht mehr daran gedacht, aber jetzt, da er Mailun wiedergesehen hatte und wusste, welche drei Leben er mit seiner Tat gerettet hatte, war er befriedigt, überzeugt, das Richtige getan zu haben. Allerdings konnte er nicht einschätzen, wie sein Sohn darüber denken würde; der Makel vergossenen Clanbluts konnte nie ganz abgewaschen werden.
20
S haan träumte. Sie schritt barfuß durch eine riesige, rote Wüste unter einem fahlen Himmel. Der Sand war weich und warm, und eine laue Brise wehte, so dass das lockere Kleid, das sie trug, wie Seide um ihre Beine strich. Es war sehr still, und am Horizont erhob sich der Sand zu hohen Dünen, die purpurn in der Entfernung verschwammen. Sie ging mit ruhiger Zielstrebigkeit, als wüsste sie genau, wohin sie unterwegs war, obwohl nichts als Sand zu sehen war. Ein durchdringendes Geräusch ertönte, wie das Läuten einer Glocke oder der Ruf eines Vogels, und sie bemerkte, dass sie nicht allein war. Vor sich sah sie in weiter Ferne zwei schimmernde Gestalten, kaum mehr als längliche Schatten. Sie konnte nicht erkennen, ob sie auf sie zukamen oder sich von ihr entfernten. Ihre Füße wirbelten den Sand auf, so dass er in Wolken um ihre Beine stob. Sie ging weiter, aber die Gestalten kamen nicht näher. Ein plötzlicher Windstoß peitschte ihr die Haare aus dem Gesicht, und sie hörte schwache Musik, einen Hauch von einem Lied, und dann sprach eine Stimme im Wind. Todesbringerin , flüsterte sie. Shaan blieb stehen; sie hatte plötzlich Angst. Tochter von Sand und Eis. Suche uns .
Wolken jagten über den Himmel, und Shaan stand zwischen hohen, verwitterten Steinsäulen. Es war Nacht, die Dunkelheit war sternengesprenkelt. Der sandgegeißelte Stein ragte hoch über ihr auf; die Überreste von längst erodierten Bildwerken waren auf den gewaltigen Klötzen kaum noch zu sehen, und hoch darüber stand der Vollmond am Himmel und strahlte ein kühles Weiß aus. Es war ein seltsamer, kalter Ort, und Shaan wollte davonlaufen, konnte sich aber nicht rühren. Sie spürte eine der Säulen im Rücken und drehte sich herum, um sie anzusehen. Es war der schwache Umriss eines Auges darin eingeritzt, doch bevor sie noch die Hand danach ausstrecken konnte, kehrte der Wind plötzlich zurück und peitschte ihr den Sand ins Gesicht. Ausgestoßen! , zischte eine Stimme, und die Säule war fort; ein anderer Stein
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