Der Verrat: Thriller (German Edition)
banale freundliche Geste fast die Tränen kamen. Aber je länger sie von Jimmy getrennt war, desto verletzlicher fühlte sich Stephanie. Vor der Zeit mit Jimmy hatte sie eine solche Verantwortung, dass ein anderer Mensch vollkommen abhängig von ihr war, überhaupt nicht gekannt. In den neun zurückliegenden Monaten hatte diese Last sie manchmal niedergedrückt. Und dann wieder hatte sie eine unerwartete Beglückung durchzuckt, und das Herz ging ihr auf. Gerade die Bürde ihrer Pflichten machte die Freude umso überwältigender. Sie hätte schwören können, dass es sogar eine körperliche Empfindung war. Und jetzt trieb sie ziellos in dieser öden Leere und fühlte sich verloren. Um wie vieles schlimmer musste es erst für ihn sein.
Die Ironie war, dass ausgerechnet eine Frau so empfand, die den Wunsch, Mutter zu werden, nie verspürt hatte. Aber trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten beglückte sie das Leben mit Jimmy so, dass sie sich kaum noch erinnern konnte, wie es ohne ihn gewesen war. Ihr anfängliches Zögern, ihn zu sich zu nehmen, erschien ihr jetzt unverständlich. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihm nach seinem großen Verlust bei der Wiedererlangung seines Lebensglücks zu helfen. Jeder Schritt auf diesem Weg hatte sie mit Freude erfüllt. Und all diese mühsam erreichten Schritte waren nun vielleicht vergebens, jetzt, da er aus seinem wiederhergestellten Leben herausgerissen war.
»Kaffee, das wäre schön«, sagte sie. »Aber haben Sie keine Angst, dass ich abhauen könnte, wenn Sie weggehen?«
Lopez warf ihr einen merkwürdigen Blick zu. »Wieso sollten Sie das tun? Wenn Sie nicht etwas verschweigen über den Mann, der Ihr Kind mitgenommen hat.« Während sie die Hand auf den Türgriff legte, wandte sie den Kopf und schaute Stephanie mitleidig an. »Ganz zu schweigen davon, dass vor der Tür jemand Wache hält. Der Typ, der den Elektroschocker gegen Sie eingesetzt hat, wenn Sie es denn wirklich wissen wollen.«
Sie sendet ja ziemlich widersprüchliche Botschaften aus, dachte Stephanie. Lopez war eine Mischung aus gutem Bullen und bösem Bullen im Kombipack. Stephanie fragte sich, ob das wohl auch in ihr Privatleben hineinspielte, und schauderte bei der Erinnerung an ihre eigene vergangene Beziehung. Sie hatte genug von Männern, die ihr wahres Gesicht hinter einer Maske falscher Mildtätigkeit verbargen. Bei dem Gedanken an den Mann mit der Gitarre erlaubte sie sich einen Moment der Zufriedenheit. Mit ihm hatte sie ihre frühere Abhängigkeit abgelegt, davon war sie überzeugt.
Aber Stephanie war klug genug zu wissen, dies bedeutete nicht, dass sie ihre Vergangenheit los war. Und in diesem Moment war die kälteste Angst in ihrem Herzen, dass Jimmy nun zu einem Opfer ihrer Vorgeschichte geworden sein könnte.
Bis Vivian zurückkam, war der letzte Rest des Kaffees eiskalt, und Stephanies Beklemmung hatte einen neuen Höhepunkt erreicht. »Was ist los?«, fragte sie, sobald die FBI-Agentin den Raum betreten hatte. »Sie sind fast eine ganze Stunde weg gewesen.«
»Ich musste alle verfügbaren Informationen sammeln und dann mit den Leuten vom Notfall-Alarm-System sprechen. Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, aber ich brauchte noch eine Auskunft von der Einwanderungsbehörde, bevor ich grünes Licht geben konnte. Wir gehen auch alle Aufnahmen aus den Überwachungskameras des gesamten Terminals durch. Wir müssen nachvollziehen, wo der Entführer sich vorher aufgehalten hat, um festzustellen, woher er kam. Ob er vor dem Terminal abgesetzt wurde oder ob er mit dem öffentlichen Nahverkehr kam.«
»Was ist mit Spuren? Es muss doch bestimmt Fingerabdrücke oder DNA oder so etwas geben?«
Vivian schüttelte den Kopf. »Im Sicherheitsbereich können wir nichts Aussagekräftiges finden. Zu viele Menschen kommen da durch. Und weil uns nicht sofort klar war, was sich tat, sind auch nach der Entführung noch Leute durchgegangen. Es tut mir leid, aber das führt nicht weiter.« Sie nahm Platz und stellte ein digitales Aufzeichnungsgerät auf den Tisch. »Jetzt, wo alles läuft, ist es Zeit, dass Sie mir helfen, ein paar Informationslücken zu füllen. Nach den Unterlagen, die Sie bei der Einwanderungsbehörde vorgezeigt haben, ist Jimmy nicht Ihr leiblicher Sohn? Aber Sie sind für ihn verantwortlich?«
»Das stimmt. Ich bin sein Vormund.«
»Wie hängt das zusammen?«
Stephanie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar, wonach es als chaotische Wuschellandschaft vom Kopf abstand.
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