Der Verrat: Thriller (German Edition)
»Wie viel Zeit haben Sie?«
Vivian lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. »Wir haben den ganzen Abend. Im Moment können wir nichts weiter tun, als versuchen, herauszufinden, wer hinter der Sache steckt. Möglicherweise liegen die Gründe für diese Tat in den Familienverhältnissen des Jungen, es sei denn, dass es ein vollkommen zufälliger Übergriff war. Und in dieser Hinsicht sind Sie meine einzige Quelle. Sie sollten ganz am Anfang beginnen, es sei denn, Sie haben kluge Ideen zur möglichen Identität des Entführers.«
Als sich plötzlich mit einem Klick die Klimaanlage einschaltete, schrak Stephanie zusammen. Aber ihr Zittern hatte nichts zu tun mit dem kalten Luftzug. Sie konnte den Verdacht, der ihr hartnäckig im Kopf herumging, doch nicht aussprechen. Das würde ihm zu großes Gewicht verleihen. Es war ja verrückt, den Gedanken überhaupt zuzulassen. Sie schlang die Arme um ihren schlanken Oberkörper und blinzelte heftig. »Zunächst müssen Sie erfahren, wer Jimmy ist. Und um das zu verstehen, müssen Sie wissen, wer seine Mutter war.«
Zweiter Teil
Ghostwriter
1
London, fünf Jahre und fünf Monate zuvor
M anchmal scheinen die Titel, die mir der Musikstream per Zufallswiedergabe auf dem Computer vorspielt, sich gegen mich zu verschwören. Bisher hatte ich an diesem Vormittag Janis Ian gehört, die ihr Unglück beklagte, Elvis Costello, der sein Unglück beklagte, und The Blue Nile, die ihr Unglück beklagten. Jetzt sang Mathilde Santing gerade »Blue Monday«, was so ziemlich meine eigene Stimmung zusammenfasste. Mein letztes Projekt hatte mich viel Kraft gekostet, aber es war schon seit drei Wochen abgeschlossen. Ich hatte mich darauf gefreut, mehr Zeit mit Pete verbringen zu können, mit Pete Matthews, dem Mann, mit dem ich seit sieben Monaten zusammen war. Aber das Ende meiner Arbeit überschnitt sich mit einer neuen Aufgabe für ihn, und nun wurde er zu verrückten Zeiten im Studio gebraucht. Einige Zeit vorher hatte ich entdeckt, dass es gar nicht so toll war, als Toningenieur zu arbeiten. Man musste zu unvorhersehbaren Zeiten erscheinen, Überstunden machen und sich mit den Starallüren der Leute herumärgern, die weniger Talent hatten, als sie sich einbildeten oder als ihren Fans bekannt war.
Ich will ehrlich sein. Ein bisschen Romantik wäre mir da gerade recht gekommen. Zwischen den Aufträgen werde ich immer kribbelig. Sobald ich mich von der Anstrengung erholt habe, den Abgabetermin einzuhalten, befällt mich die Sorge, woher der nächste Auftrag kommen soll. Was wäre, wenn’s jetzt aus ist? Was wäre, wenn ich abstürzte, weg vom Fenster wäre und keine Arbeit mehr bekäme? Wie würde ich die Wohnung abbezahlen? Würde ich verkaufen müssen, aus London weg und, Gott helfe mir, wieder zu meinen Eltern in ihr enges kleines Reihenhaus in Lincoln ziehen müssen? Ein paar Tage konnte ich es aushalten mit Lesen und Einkaufen, ein paarmal mit Freundinnen essen gehen, hin und wieder ein Nachmittag im Kino. Aber dann fing ich jedes Mal an, mit den Hufen zu scharren, weil ich eine neue Aufgabe brauchte.
Pete lachte mich immer aus, wenn ich über meine Ängste sprach. »Hör dir mal selbst zu«, machte er sich lustig. »Innerhalb von zehn Sekunden siehst du aus heiterem Himmel vollkommen schwarz. Schau dir doch deine Erfolge an, Mädel. Wenn sie dir einen Auftrag geben, wissen sie schon, dass sie absolutes Engagement kriegen. Du gehörst ihnen mit Haut und Haaren – vom Vertragsabschluss bis zur Abgabe.«
So sehe ich mich eigentlich nicht, aber ich verstand, was er meinte. Ich habe meine Projekte nie auf die leichte Schulter genommen, und in dieser Branche spricht sich so etwas herum. Ich bilde mir ein, einen guten Ruf zu haben. Aber manchmal ist es schwierig, an diesem Selbstbewusstsein festzuhalten. Petes Name stand auf CDs. Das war eine konkrete Anerkennung. Aber der Sinn meiner Arbeit liegt gerade darin, unsichtbar zu bleiben. Manchmal erscheint mein Name auf dem Deckblatt oder in den Danksagungen, aber meistens wollen meine Kunden die Illusion aufrechterhalten, dass sie selbst Satz an Satz reihen können. Wenn Pete und ich mit Freunden zusammen waren, konnte ich deshalb fast nichts über meine Arbeit erzählen. Es war, als gehörte man zur Mafia. Nur haben die ihre Familie um sich als Rückhalt. Ich dagegen war nur eine unbedeutende Figur im Hintergrund.
Ich schaltete Mathilde Santing mitten im Song ab und ging in die Küche. Kaum hatte ich den Kessel aufgesetzt, als das Telefon
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