Der Verrat: Thriller (German Edition)
Puste auszugehen. Sie rieb sich die Augen, und ihr Gesicht war nur noch eine schmerzlich verzogene Grimasse. »All das ist nicht leicht, wissen Sie. Soll ich Ihnen seine Nummer geben?« Sie sagte sie auswendig auf, und Vivian gab sie in ihr Handy ein.
»Warten Sie hier«, sagte sie verbissen. »Ich muss erst hören, was dieser Nicolaides zu sagen hat.«
16
M it jedem Tag schien der schallisolierte Raum bedrückender zu werden. Detective Sergeant Nick Nicolaides kannte die individuellen Duftmarken der anderen fünf im Büro so gut, dass er sie mit verbundenen Augen aus einer Reihe von Personen hätte herauspicken können. Er kannte ihre kleinen Ticks, einer tippte mit einem Stift gegen die Zähne, ein anderer trommelte leise auf den Schreibtisch, einer zog die Luft durch die Vorderzähne ein, kratzte den Designer-Stoppelhaarschnitt mit den Fingernägeln oder fingerte unablässig am Steg der Lesebrille herum. Er wusste, wer welchen Witz über die E-Mails machen würde, die sie durchzugehen hatten. Er wusste, wer mit seiner Geliebten twitterte, statt zu arbeiten, wer seinem Buchmacher eine SMS schickte und wer sich online von Tesco Lebensmittel bestellte. Und natürlich wusste er mehr über das Berufs- und Privatleben der Journalisten im Medienkonzern News International, als irgendein erwachsener Mensch wissen müssen sollte.
Als er vorübergehend dem Ermittlerteam zugeteilt worden war, das sich mit den Vorwürfen befasste, dass man bei News International Telefongespräche abhöre und Beamte besteche, war Nick zunächst begeistert. Es war ein Fall, der in die Schlagzeilen kommen konnte, und die möglichen Auswirkungen für die Medien und den Metropolitan Police Service waren aufregend. Allerdings nicht im positiven Sinn.
Aber der Lack war ziemlich bald ab. News International hatte ihnen dreihundert Millionen E-Mails übergeben. Dreihundert Millionen! Nick hatte den Verdacht, dass sie alles, was sie finden konnten, mit in die Untersuchung einbezogen hatten, in der Hoffnung, dass man dann vor lauter Bäumen den Wald nicht sähe. Es war einfach menschenunmöglich, jede einzelne der Mails zu lesen. Er erinnerte sich, dass er einmal etwas über ein Projekt gelesen hatte, jede Galaxie im Universum hinsichtlich ihrer Form zu klassifizieren. Die Astronomen, die daran arbeiteten, hatten Freiwillige gebeten, sich auf ihrer Website einzuloggen und an dem Projekt teilzunehmen. Nur so konnte man genug Mitwirkende zusammenbekommen. Und selbst dann war vorauszusehen, dass es Jahre dauern würde. Hier war das allerdings keine Alternative, denn es ging um ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren.
Sie hatten dafür ein Computerprogramm zur Verfügung, das sich nach und nach durch alle dreihundert Millionen E-Mails durchfraß. Es war mit Schlüsselwörtern und Wendungen ausgestattet, was theoretisch heißen sollte, dass alle verdächtigen E-Mails aussortiert und in die Posteingangsordner der Leute geleitet wurden, die überall in der alten Druckerei in Wapping in genau solchen Räumen saßen wie er und vor sich hin malochten. Jede Gruppe setzte sich aus Datenschutzbeauftragten des Verlags und Mitarbeitern der Polizei zusammen. Eingebettet nannte man diese Arbeitssituation. Und verdammt eingebettet fühlte man sich auch. Eingebettet bis zum Hals in der Scheiße, die andere Leute gebaut hatten.
Statt an wirklichen Fällen zu arbeiten und die wahren Kriminellen zu fassen, war Nick jetzt also in einem Kasten eingeschlossen und suchte nach Beweisen, die, sollte er sie jemals finden, wahrscheinlich niemals in einem Gerichtssaal Verwendung finden würden. Ein paar Monate zuvor hatte es ausgesehen, als sei er mit seiner Karriere auf dem Weg nach oben. Aber das hier war tote Hose hoch drei.
Er klickte auf die nächste E-Mail in seiner Liste. Sie war mit einer kleinen Flagge versehen, weil sie das Wort »credit« enthielt. Eine Möglichkeit, wie Journalisten Schmiergelder an ihre Quellen zahlten, war, dass sie ihre Partner im credits book, also im Mitarbeiterverzeichnis, führten. Wenn man Detective Chief Inspector X dafür belohnen wollte, dass er einem einen exklusiven Tipp gegeben hatte, dann überwies man eine Zahlung an seine Freundin, seine Mutter oder seinen besten Freund. Jedes Mal, wenn also ein Journalist oder eine Führungskraft bestimmte Ausdrücke gebrauchte wie »taking the credit« – sich etwas als Verdienst anrechnen – oder »credit where it’s due« – was so viel heißt wie »Ehre, wem Ehre gebührt« –, dann
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