Der Verrat: Thriller (German Edition)
nach einem vermissten Kind aus den Augen zu verlieren. Und vielleicht – nur eventuell – steckte hinter Stephanies verschlungenen Geschichten eine bewusste Absicht. Wer hätte schließlich besser gewusst als sie, dass der Sicherheitsdienst sie anhalten und untersuchen würde? Wer wäre in einer günstigeren Lage gewesen als sie, diese Sache einzufädeln? Man hatte ihr den Balg einer reichen Frau aufgebürdet ohne das Geld, um für ihn zu bezahlen. Vielleicht hatte sie beschlossen, von der Wohltätigkeitsorganisation, die sie vorher erwähnt hatte, Geld zu erpressen. »Diese langen Geschichten helfen mir nicht, einen brauchbaren Verdächtigen zu finden«, sagte sie kühl. »Sagen Sie, Stephanie, wenn Sie eine Lösegeldforderung für Jimmy bekämen, wer würde zahlen?«
Stephanie sah erschrocken aus. »Ich … ich weiß nicht. Das hab ich mir nie überlegt.« Sie spreizte die Hände, eine Geste der Offenheit. »Ich habe eine solche Summe nicht.«
»Welche Summe?«
Sie schien verwundert. »Na ja, wenn man von Lösegeld hört, geht es gewöhnlich um siebenstellige Zahlen und aufwärts. Ich bin nicht reich. Ich verdiene ganz gut, aber ich bin keine Millionärin. Ich würde mein Bestes tun, Geld zusammenzubekommen, aber ich habe kein großes Vermögen.«
»Könnten Sie sich nicht an die mildtätige Stiftung seiner Mutter wenden?«
»Das käme nicht in Frage«, antwortete Stephanie. »Sie wurde gegründet, um ein Waisenhaus in einem entlegenen Teil Rumäniens zu unterstützen. Scarlett reiste 2007 dorthin, es war ein Teil von Caring for Kids – das ist ein großer Spendenmarathon im britischen Fernsehen –, und diese Kinder machten sie total fassungslos. Viele von ihnen haben Aids, und daran starb ja auch ihr Vater. Sie war entsetzt über die Zustände dort. Also gründete sie die Stiftung, um für die Kinder zu sorgen. Das Waisenhaus ist der einzige Nutznießer, daran lässt sich nicht drehen. Ich habe eine Freundin, die Rechtsanwältin ist und sich auf Stiftungen spezialisiert hat; ich habe sie gebeten, sich zu erkundigen, ob ich für Jimmys Ausbildung oder seinen Unterhalt auf einen Teil Anspruch erheben könnte. Sie sagte mir, die Stiftung sei unangreifbar. Er hat nur mich, es sei denn, wir können ihn in eine rumänische Waise verwandeln.«
»Wie steht’s mit dem Vermögen seines Vaters?«
Stephanie schnaubte belustigt. »Welches Vermögen? Joshu warf das Geld zum Fenster raus. Schneller, als er es verdienen konnte, zuletzt. Er begeisterte sich zu sehr für Drogen, schnelle Autos und dämliche Frauen. Das Einzige, was er Jimmy hinterlassen hat, war seine Musik, die in Kartons verpackt in einem Abstellraum lagert. Da könnten ein paar Tausender rauskommen, wenn ich sie bei eBay losschlagen würde, aber nicht genug, um Lösegeld zu zahlen. Nein, wenn jemand Jimmy entführt hat, weil er Geld will, dann hat er sich bei der Einschätzung sehr geirrt.« Sie fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Aber zumindest hätte er ein Interesse, ihn am Leben zu lassen. Was besser ist als die andere Möglichkeit.«
»Und das heißt, wir sind wieder ganz am Anfang angelangt.« Vivian konnte ihre Ungeduld nicht mehr verbergen. »Wenn Sie mir nicht helfen können, einem brauchbaren Verdächtigen auf die Spur zu kommen, wer dann?«
Stephanie warf ihr einen nervösen Blick zu. Und Vivian hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, dass es etwas gab, das unter der Oberfläche lauerte. Etwas, das Stephanie für sich behalten wollte. Etwas, an das sie nicht einmal denken mochte. Sie senkte den Blick und studierte ihre sorgfältig manikürten Nägel. »Es gibt jemanden, mit dem zu reden Ihnen vielleicht helfen könnte. Er ist Kripobeamter bei Scotland Yard. Detective Sergeant Nick Nicolaides.«
Vivian war sprachlos. Jetzt plötzlich, nach zwei Stunden Befragung, kam Stephanie Harker mit einem Polizisten um die Ecke, der etwas beitragen konnte. »Wer ist denn verflixt noch mal Sergeant Nick Nicolaides? Und was hat er mit der Sache zu tun?«
»Nach Joshus Tod war er der Beamte, der alle Vernehmungen durchführte. Er war wirklich verständnisvoll und schien auch gründlich zu sein. Jedenfalls rief ich ihn an, als ich im letzten Jahr selbst ein paar Probleme hatte, denn er war der einzige Polizist, den ich kannte. Er kennt also Jimmy und auch die Hintergründe.« Sie hob den Blick und traf auf Vivians ungläubig starren Blick.
»Und wieso höre ich jetzt erst von ihm?«
»Tut mir leid.« Der redegewandten Stephanie schien die
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