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Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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entfliehen, er wollte nur ans Licht kommen. Konnte er also nicht zur Tür hinaus, so mußte er auf den Balkon.
       Den Eßtisch fand er an einer offenbar ganz anderen Stelle wie am Abend, das Kanapee, dem sich Karl natür- lich sehr vorsichtig näherte, war überraschenderweise leer, dagegen stieß er in der Zimmermitte auf hochge- schichtete, wenn auch stark gepreßte Kleider, Decken, Vorhänge, Polster und Teppiche. Zuerst dachte er, es sei nur ein kleiner Haufen, ähnlich dem, den er am Abend auf dem Sofa gefunden hatte und der etwa auf die Erde gerollt war, aber zu seinem Staunen bemerkte er beim Weiterkriechen, daß da eine ganze Wagenladung solcher Sachen lag, die man wahrscheinlich für die Nacht aus den Kästen herausgenommen hatte, wo sie während des Tages aufewahrt wurden. Er umkroch den Haufen und erkannte bald, daß das Ganze eine Art Bettlager darstell- te, auf dem hoch oben, wie er sich durch vorsichtigstes Tasten überzeugte, Delamarche und Brunelda ruhten.
       Jetzt wußte er also, wo alle schliefen und beeilte sich nun auf den Balkon zu kommen. Es war eine ganz ande- re Welt, in der er sich nun, außerhalb des Vorhangs, schnell erhob. In der frischen Nachtluf, im vollen Schein des Mondes ging er einigemal auf dem Balkon auf und ab. Er sah auf die Straße, sie war ganz still, aus dem Gasthaus klang noch die Musik, aber nur gedämpf her- vor, vor der Tür kehrte ein Mann das Trottoir, in der Gasse, in der am Abend innerhalb des wüsten allgemei- nen Lärms das Schreien eines Wahlkandidaten von tau- send anderen Stimmen nicht hatte unterschieden werden können, hörte man nun deutlich das Kratzen des Besens auf dem Pflaster.
    Das Rücken eines Tisches auf dem Nachbarbalkon machte Karl aufmerksam, dort saß ja jemand und stu- dierte. Es war ein junger Mann mit einem kleinen Spitz- bart, an dem er beim Lesen, das er mit raschen Lippen- bewegungen begleitete, ständig drehte. Er saß, das Ge- sicht Karl zugewendet, an einem kleinen mit Büchern bedeckten Tisch, die Glühlampe hatte er von der Mauer abgenommen, zwischen zwei große Bücher geklemmt und war nun von ihrem grellen Licht ganz überleuchtet. „Guten Abend", sagte Karl, da er bemerkt zu haben glaubte, daß der junge Mann zu ihm herübergeschaut hätte.
    Aber das mußte wohl ein Irrtum gewesen sein, denn der junge Mann schien ihn überhaupt noch nicht be- merkt zu haben, legte die Hand über die Augen, um das Licht abzublenden und festzustellen, wer da plötzlich grüßte, und hob dann, da er noch immer nichts sah, die Glühlampe hoch, um mit ihr auch den Nachbarbalkon ein wenig zu beleuchten.
       „Guten Abend", sagte dann auch er, blickte einen Augenblick lang scharf herüber und fügte dann hinzu: und was weiter?"
       „Ich störe Sie?" fragte Karl.
       „Gewiß, gewiß", sagte der Mann und brachte die Glühlampe wieder an ihren früheren Ort.
       Mit diesen Worten war allerdings jede Anknüpfung abgelehnt, aber Karl verließ trotzdem die Balkonecke, in der er dem Manne am nächsten war, nicht. Stumm sah er zu, wie der Mann in seinem Buche las, die Blätter wen- dete, hie und da in einem andern Buche, das er immer mit Blitzesschnelle ergriff, irgend etwas nachschlug und öfers Notizen in ein Hef eintrug, wobei er immer überraschend tief das Gesicht zu dem Hefe senkte.
       Ob dieser Mann vielleicht ein Student war? Es sah ganz so aus, als ob er studierte. Nicht viel anders – jetzt war es schon lange her – war Karl zu Hause am Tisch der Eltern gesessen und hatte seine Aufgaben geschrie- ben, während der Vater die Zeitung las oder Bucheintra- gungen und Korrespondenzen für einen Verein erledigte und die Mutter mit einer Näharbeit beschäfigt war und hoch den Faden aus dem Stoffe zog. Um den Vater nicht zu belästigen, hatte Karl nur das Hef und das Schreib- zeug auf den Tisch gelegt, während er die nötigen Bü- cher rechts und links von sich auf Sesseln angeordnet hatte. Wie still war es dort gewesen! Wie selten waren fremde Leute in jenes Zimmer gekommen! Schon als kleines Kind hatte Karl immer gerne zugesehen, wenn die Mutter gegen Abend die Wohnungstür mit dem Schlüssel absperrte. Sie hatte keine Ahnung davon, daß es jetzt mit Karl soweit gekommen war, daß er fremde Türen mit Messern aufzubrechen suchte.
       Und welchen Zweck hatte sein ganzes Studium ge- habt! Er hatte ja alles vergessen; wenn es darauf ange- kommen wäre, hier sein Studium fortzusetzen, es wäre ihm sehr schwer geworden. Er

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