Der Verschollene
ich noch hier bin."
„Haben Sie denn eine andere Stellung?" fragte der Student.
„Nein", sagte Karl, „aber daran liegt mir nichts, wenn ich nur von hier fort wäre."
„Hören Sie einmal", sagte der Student, „daran liegt Ihnen nichts?" Und beide schwiegen ein Weilchen. „Warum wollen Sie denn bei den Leuten nicht blei- ben?" fragte dann der Student.
„Delamarche ist ein schlechter Mensch", sagte Karl,
„ich kenne ihn schon von früher her. Ich marschierte einmal einen Tag lang mit ihm und war froh, als ich nicht mehr bei ihm war. Und jetzt soll ich Diener bei ihm werden?"
„Wenn alle Diener bei der Auswahl ihrer Herrschafen so heikel sein wollten wie Sie!" sagte der Student und schien zu lächeln. „Sehen Sie, ich bin während des Tages Verkäufer, niedrigster Verkäufer, eher schon Laufur- sche im Warenhaus von Montly. Dieser Montly ist zwei- fellos ein Schurke, aber das läßt mich ganz ruhig, wü- tend bin ich nur, daß ich so elend bezahlt werde. Neh- men Sie sich also an mir ein Beispiel."
„Wie?" sagte Karl, „Sie sind bei Tag Verkäufer und in der Nacht studieren Sie?"
„Ja", sagte der Student, „es geht nicht anders. Ich habe schon alles mögliche versucht, aber diese Lebens- weise ist noch die beste. Vorjahren war ich nur Student, bei Tag und Nacht wissen Sie, nur bin ich dabei fast verhungert, habe in einer schmutzigen alten Höhle ge- schlafen und wagte mich in meinem damaligen Anzug nicht in die Hörsäle. Aber das ist vorüber."
„Aber wann schlafen Sie?" fragte Karl und sah den Studenten verwundert an.
„Ja, schlafen!" sagte der Student, „schlafen werde ich, wenn ich mit meinem Studium fertig bin. Vorläufig trinke ich schwarzen Kaffee." Und er wandte sich um, zog unter seinem Studiertisch eine große Flasche her- vor, goß aus ihr schwarzen Kaffee in ein Täßchen und schüttete ihn in sich hinein, so wie man Medizinen eilig schluckt, um möglichst wenig von ihrem Geschmack zu spüren.
„Eine feine Sache, der schwarze Kaffee", sagte der Student, „ schade, daß Sie so weit sind, daß ich Ihnen nicht ein wenig hinüberreichen kann."
„Mir schmeckt schwarzer Kaffee nicht", sagte Karl.
„Mir auch nicht", sagte der Student und lachte. „Aber was wollte ich ohne ihn anfangen. Ohne den schwarzen Kaffee würde mich Montly keinen Augenblick behalten. Ich sage immer Montly, trotzdem der natürlich keine Ahnung hat, daß ich auf der Welt bin. Ganz genau weiß ich nicht, wie ich mich im Geschäf benehmen würde, wenn ich nicht dort im Pult eine gleich große Flasche wie diese immer vorbereitet hätte, denn ich habe noch nie gewagt, mit dem Kaffeetrinken auszusetzen, aber vertrauen Sie nur, ich würde bald hinter dem Pulte liegen und schlafen. Leider ahnt man das, sie nennen mich dort den ‚schwarzen Kaffee', was ein blödsinniger Witz ist und mir gewiß in meinem Vorwärtskommen schon ge- schadet hat."
„Und wann werden Sie mit Ihrem Studium fertig wer- den?" fragte Karl.
„Es geht langsam", sagte der Student mit gesenktem Kopf. Er verließ das Geländer und setzte sich wieder an den Tisch; die Ellbogen auf das offene Buch aufgestützt, mit den Händen durch seine Haare fahrend sagte er dann: „Es kann noch ein bis zwei Jahre dauern." „Ich wollte auch studieren", sagte Karl, als gebe ihm dieser Umstand ein Anrecht auf ein noch größeres Ver- trauen, als es der jetzt verstummende Student ihm ge- genüber schon bewiesen hatte.
„So", sagte der Student und es war nicht ganz klar, ob er in seinem Buche schon wieder las oder nur zerstreut hineinstarrte, „seien Sie froh, daß Sie das Studium aufge- geben haben. Ich selbst studiere schon seit Jahren ei- gentlich nur aus Konsequenz. Befriedigung habe ich we- nig davon und Zukunfsaussichten noch weniger. Was für Aussichten wollte ich denn haben! Amerika ist voll von Schwindeldoktoren."
„Ich wollte Ingenieur werden", sagte Karl noch eilig zu dem scheinbar schon gänzlich unaufmerksamen Stu- denten hinüber.
„Und jetzt sollen Sie Diener bei diesen Leuten wer- den", sagte der Student und sah flüchtig auf, „das schmerzt Sie natürlich."
Diese Schlußfolgerung des Studenten war allerdings ein Mißverständnis, aber vielleicht konnte es Karl beim Studenten nutzen. Er fragte deshalb: „Könnte ich nicht vielleicht auch eine Stelle im Warenhaus bekommen?" Diese Frage riß den Studenten völlig von seinem Bu- che los; der Gedanke, daß er Karl bei
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