Der Verschollene
seiner Postenbe- werbung behilflich sein könnte, kam ihm gar nicht. Versuchen Sie es", sagte er, „oder versuchen Sie es lie- ber nicht. Daß ich meinen Posten bei Montly bekommen habe, ist der bisher größte Erfolg meines Lebens gewe- sen. Wenn ich zwischen dem Studium und meinem Po- sten zu wählen hätte, würde ich natürlich den Posten wählen. Meine Anstrengung geht nur darauf hin, die Notwendigkeit einer solchen Wahl nicht eintreten zu lassen."
„So schwer ist es, dort einen Posten zu bekommen", sagte Karl mehr für sich.
„Ach was denken Sie denn", sagte der Student, „es ist leichter, hier Bezirksrichter zu werden als Türöffner bei Montly."
Karl schwieg. Dieser Student, der doch so viel erfahre- ner war als er, der den Delamarche aus irgendwelchen Karl noch unbekannten Gründen haßte, der dagegen Karl gewiß nichts Schlechtes wünschte, fand für Karl kein Wort der Aufmunterung, den Delamarche zu ver- lassen. Und dabei kannte er noch gar nicht die Gefahr, die Karl von der Polizei drohte und vor der er nur bei Delamarche halbwegs geschützt war.
„Sie haben doch am Abend die Demonstration unten gesehen? Nicht wahr? Wenn man die Verhältnisse nicht kennen würde, sollte man doch denken, dieser Kandi- dat, er heißt Lobter, werde doch irgendwelche Aussich- ten haben oder er komme doch wenigstens in Betracht, nicht?"
„Ich verstehe von Politik nichts", sagte Karl.
„Das ist ein Fehler", sagte der Student. „Aber abgese- hen davon haben Sie doch Augen und Ohren. Der Mann hat doch zweifellos Freunde und Feinde gehabt, das kann Ihnen doch nicht entgangen sein. Und nun beden- ken Sie, der Mann hat meiner Meinung nach nicht die geringsten Aussichten, gewählt zu werden. Ich weiß zu- fällig alles über ihn, es wohnt da bei uns einer, der ihn kennt. Er ist kein unfähiger Mensch und seinen politi- schen Ansichten und seiner politischen Vergangenheit nach wäre gerade er der passende Richter für den Bezirk. Aber kein Mensch denkt daran, daß er gewählt werden könnte, er wird so prachtvoll durchfallen, als man durchfallen kann, er wird für die Wahlkampagne seine paar Dollars hinausgeworfen haben, das wird alles sein."
Karl und der Student sahen einander ein Weilchen schweigend an. Der Student nickte lächelnd und drückte mit einer Hand die müden Augen.
„Nun, werden Sie noch nicht schlafen gehen?" fragte er dann, „ich muß ja auch wieder studieren. Sehen Sie, wieviel ich noch durchzuarbeiten habe." Und er blätter- te ein halbes Buch rasch durch, um Karl einen Begriff von der Arbeit zu geben, die noch auf ihn wartete.
„Dann also gute Nacht", sagte Karl und verbeugte sich.
„Kommen Sie doch einmal zu uns herüber", sagte der Student, der schon wieder an seinem Tisch saß, „natür- lich nur wenn Sie Lust haben. Sie werden hier immer große Gesellschaf finden. Von neun bis zehn Uhr abends habe ich auch für Sie Zeit."
„Sie raten mir also, bei Delamarche zu bleiben?" frag- te Karl.
„Unbedingt", sagte der Student und senkte schon den Kopf zu seinen Büchern. Es schien, als hätte gar nicht er das Wort gesagt; wie von einer Stimme gesprochen, die tiefer war als jene des Studenten, klang es noch in Karls Ohren nach. Langsam ging er zum Vorhang, warf noch einen Blick auf den Studenten, der jetzt ganz unbeweg- lich, von der großen Finsternis umgeben, in seinem Lichtschein saß, und schlüpfe ins Zimmer. Die verein- ten Atemzüge der drei Schläfer empfingen ihn. Er suchte die Wand entlang das Kanapee, und als er es gefunden hatte, streckte er sich ruhig auf ihm aus, als sei es sein gewohntes Lager. Da ihm der Student, der den Dela- marche und die hiesigen Verhältnisse genau kannte und überdies ein gebildeter Mann war, geraten hatte, hier zu bleiben, hatte er vorläufig keine Bedenken. So hohe Ziele wie der Student hatte er nicht, wer weiß, ob es ihm sogar zu Hause gelungen wäre, das Studium zu Ende zu füh- ren, und wenn es zu Hause kaum möglich schien, so konnte niemand verlangen, daß er es hier im fremden Lande tue. Die Hoffnung aber, einen Posten zu finden, in dem er etwas leisten und für seine Leistungen aner- kannt werden konnte, war gewiß größer, wenn er vor- läufig die Dienerstelle bei Delamarche annahm und aus dieser Sicherheit heraus die günstige Gelegenheit abwar- tete. Es schienen sich ja in dieser Straße viele Büros mitt- leren und unteren Ranges zu befinden, die vielleicht im Falle des Bedarfes bei der Auswahl ihres Personals
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