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Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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erinnerte sich daran, daß er zu Hause einmal einen Monat lang krank gewesen war – welche Mühe hatte es ihn damals gekostet, sich nachher wieder in dem unterbrochenen Lernen zurecht- zufinden. Und nun hatte er außer dem Lehrbuch der englischen Handelskorrespondenz schon so lange kein Buch gelesen.
       „Sie, junger Mann", hörte sich Karl plötzlich ange- sprochen, „könnten Sie sich nicht anderswo aufstellen? Ihr Herüberstarren stört mich schrecklich. Um zwei Uhr in der Nacht kann man doch schließlich verlangen, auf dem Balkon ungestört arbeiten zu können. Wollen Sie denn etwas von mir?"
       „Sie studieren?" fragte Karl.
       „Ja, ja", sagte der Mann und benutzte dieses für das Lernen verlorene Weilchen, um unter seinen Büchern eine neue Ordnung einzurichten.
       „Dann will ich Sie nicht stören", sagte Karl, „ich gehe überhaupt schon ins Zimmer zurück. Gute Nacht." Der Mann gab nicht einmal eine Antwort, mit einem plötzlichen Entschlüsse hatte er sich nach Beseitigung dieser Störung wieder ans Studieren gemacht und stützte die Stirn schwer in die rechte Hand.
    Da erinnerte sich Karl knapp vor dem Vorhang daran, warum er eigentlich herausgekommen war, er wußte ja noch gar nicht, wie es mit ihm stand. Was lastete nur so auf seinem Kopf? Er griff hinauf und staunte, da war keine blutige Verletzung, wie er im Dunkel des Zimmers gefürchtet hatte, es war nur ein noch immer feuchter turbanartiger Verband. Er war, nach den noch hie und da hängenden Spitzenüberresten zu schließen, aus einem alten Wäschestück Bruneldas gerissen und Robinson hatte ihn wohl flüchtig Karl um den Kopf gewickelt. Nur hatte er vergessen, ihn auszuwinden, und so war während Karls Bewußtlosigkeit das viele Wasser das Ge- sicht herab und unter das Hemd geronnen und hatte Karl einen solchen Schrecken eingejagt.
    „Sie sind wohl noch immer da?" fragte der Mann und blinzelte herüber.
    „Jetzt gehe ich aber schon wirklich", sagte Karl, „ich wollte hier nur etwas anschauen, im Zimmer ist es ganz finster."
    „Wer sind Sie denn?" sagte der Mann, legte den Feder- halter in das vor ihm geöffnete Buch und trat an das Geländer. „Wie heißen Sie? Wie kommen Sie zu den Leuten? Sind Sie schon lange hier? Was wollen Sie denn anschauen? Drehen Sie doch Ihre Glühlampe dort auf, damit man Sie sehen kann."
       Karl tat dies, zog aber, ehe er antwortete, noch den Vorhang der Tür fester zu, damit man im Innern nichts merken konnte. „Verzeihen Sie", sagte er dann im Flü- sterton, „daß ich so leise rede. Wenn mich die drinnen hören, habe ich wieder einen Krawall."
       „Wieder?" fragte der Mann.
       „Ja", sagte Karl, „ich habe ja erst abend einen großen Streit mit ihnen gehabt. Ich muß da noch eine fürchter- liche Beule haben." Und er tastete hinten seinen Kopf ab.
       „Was war denn das für ein Streit?" fragte der Mann und fügte, da Karl nicht gleich antwortete, hinzu: „Mir können Sie ruhig alles anvertrauen, was Sie gegen diese Herrschafen auf dem Herzen haben. Ich hasse sie näm- lich alle drei und ganz besonders Ihre Madame. Es sollte mich übrigens wundern, wenn man Sie nicht schon gegen mich gehetzt hätte. Ich heiße Josef Mendel und bin Student."
       „Ja", sagte Karl, „erzählt hat man mir schon von Ih- nen, aber nichts Schlimmes. Sie haben wohl einmal Frau Brunelda behandelt, nicht wahr?"
       „Das stimmt", sagte der Student und lachte, „riecht das Kanapee noch danach?"
       „O ja", sagte Karl.
       „Das freut mich aber", sagte der Student und fuhr mit
    der Hand durchs Haar. „Und warum macht man Ihnen Beulen?"
    „Es war ein Streit", sagte Karl im Nachdenken dar- über, wie er es dem Studenten erklären sollte. Dann aber unterbrach er sich und sagte: „Störe ich Sie denn nicht?" „Erstens", sagte der Student, „haben Sie mich schon gestört und ich bin leider so nervös, daß ich lange Zeit brauche, um mich wieder hineinzufinden. Seit Sie da Ihre Spaziergänge auf dem Balkon angefangen haben, komme ich mit dem Studieren nicht vorwärts. Zweitens aber mache ich um drei Uhr immer eine Pause. Erzählen Sie also nur ruhig. Es interessiert mich auch." „Es ist ganz einfach", sagte Karl, „Delamarche will, daß ich bei ihm Diener werde. Aber ich will nicht. Ich wäre am liebsten noch gleich abends weggegangen. Er wollte mich nicht lassen, hat die Tür abgesperrt, ich wollte sie aufrechen und dann kam es zu der Rauferei. Ich bin unglücklich, daß

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