Der Verschollene
dern jede stand auf einem Postament, das aber nicht zu sehen war, denn die langen wehenden Tücher der Engel- kleidung hüllten es vollständig ein. Da nun die Posta- mente sehr hoch, wohl bis zwei Meter hoch waren, sa- hen die Gestalten der Frauen riesenhaf aus, nur ihre kleinen Köpfe störten ein wenig den Eindruck der Grö- ße, auch ihr gelöstes Haar hieng zu kurz und fast lächer- lich zwischen den großen Flügeln und an den Seiten hinab. Damit keine Einförmigkeit entstehe, hatte man Postamente in der verschiedensten Größe verwendet, es gab ganz niedrige Frauen, nicht weit über Lebensgröße, aber neben ihnen schwangen sich andere Frauen in sol- che Höhe hinauf, daß man sie beim leichtesten Windstoß in Gefahr glaubte. Und nun bliesen alle diese Frauen. Es gab nicht viele Zuhörer. Klein im Vergleich zu den großen Gestalten giengen etwa zehn Burschen vor dem Podium hin und her und blickten zu den Frauen hinauf. Sie zeigten einander diese oder jene, sie schienen aber nicht die Absicht zu haben einzutreten und sich aufneh- men zu lassen. Nur ein einziger älterer Mann war zu sehn, er stand ein wenig abseits. Er hatte gleich auch seine Frau und ein Kind im Kinderwagen mitgebracht. Die Frau hielt mit der einen Hand den Wagen, mit der andern stützte sie sich auf die Schulter des Mannes. Sie bewunderten zwar das Schauspiel, aber man erkannte doch, daß sie enttäuscht waren. Sie hatten wohl auch erwartet eine Arbeitsgelegenheit zu finden, dieses Trom- petenblasen aber beirrte sie.
Karl war in der gleichen Lage. Er trat in die Nähe des Mannes, hörte ein wenig den Trompeten zu und sagte dann: „Hier ist doch die Aufnahmestelle für das Teater von Oklahama?" „Ich glaubte es auch", sagte der Mann, „aber wir warten hier schon seit einer Stunde und hören nichts als die Trompeten. Nirgends ist ein Plakat zu sehn, nirgends ein Ausrufer, nirgends jemand, der Aus- kunf geben könnte." Karl sagte: „Vielleicht wartet man, bis mehr Leute zusammenkommen. Es sind wirk- lich noch sehr wenig hier." „Möglich", sagte der Mann und sie schwiegen wieder. Es war auch schwer im Lärm der Trompeten etwas zu verstehn. Aber dann flüsterte die Frau etwas ihrem Manne zu, er nickte und sie rief gleich Karl an: „Könnten Sie nicht in die Rennbahn hin- übergehn und fragen wo die Aufnahme stattfindet." „Ja", sagte Karl, „aber ich müßte über das Podium gehn, zwischen den Engeln durch." „Ist das so schwierig?" fragte die Frau. Für Karl erschien ihr der Weg leicht, ihren Mann aber wollte sie nicht ausschicken. „Nun ja", sagte Karl, „ich werde gehn." „Sie sind sehr gefällig", sagte die Frau und sie wie auch ihr Mann drückten Karl die Hand. Die Burschen liefen zusammen, um aus der Nähe zu sehn wie Karl auf das Podium stieg. Es war als bliesen die Frauen stärker, um den ersten Stellensuchen- den zu begrüßen. Diejenigen aber, an deren Postament Karl gerade vorübergieng, gaben sogar die Trompeten vom Munde und beugten sich zur Seite um seinen Weg zu verfolgen. Karl sah auf dem andern Ende des Po- diums einen unruhig auf und abgehenden Mann, der offenbar nur auf Leute wartete, um ihnen alle Auskunf zu geben, die man nur wünschen konnte. Karl wollte schon auf ihn zugehn, da hörte er über sich seinen Na- men rufen: „Karl", rief ein Engel. Karl sah auf und fieng vor freudiger Überraschung zu lachen an; es war Fanny. Fanny", rief er und grüßte mit der Hand hinauf. Komm doch her", rief Fanny, „Du wirst doch nicht an mir vorüberlaufen." Und sie schlug die Tücher ausein- ander so daß das Postament und eine schmale Treppe die hinaufführte, frei gelegt wurde. „Ist es erlaubt, hinauf- zugehn?" fragte Karl. „Wer will es uns verbieten, daß wir einander die Hand drücken", rief Fanny und blickte sich erzürnt um, ob nicht etwa schon jemand mit dem Verbote käme. Karl lief aber schon die Treppe hinauf. Langsamer", rief Fanny, „das Postament und wir beide stürzen um." Aber es geschah nichts, Karl kam glücklich bis zur letzten Stufe. „Sieh nur", sagte Fanny nachdem sie einander begrüßt hatten, „sieh nur was für eine Ar- beit ich bekommen habe." „Es ist ja schön", sagte Karl und sah sich um. Alle Frauen in der Nähe hatten schon Karl bemerkt und kicherten. „Du bist fast die höchste", sagte Karl und streckte die Hand aus, um die Höhe der andern abzumessen. „Ich habe Dich gleich gesehn", sag- te Fanny, „als Du aus der Station kamst, aber ich bin leider hier in der letzten Reihe, man
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