Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
Vom Netzwerk:
nicht an. Und diese Schneestürme in den langen geraden Newyorker Straßen! Karl hatte noch keinen Winter in Newyork mitgemacht. Geht man gegen den Wind, und der dreht sich im Kreise, kann man keinen Augenblick die Augen öffnen, immerfort zerreibt einem der Wind den Schnee auf dem Gesicht, man lauf aber kommt nicht weiter, es ist etwas Verzweifeltes. Ein Kind ist dabei natürlich gegen Erwachsene im Vorteil, es lauf unter dem Wind durch und hat noch ein wenig Freude an allem. So hatte auch damals Terese ihre Mutter nicht ganz begreifen können und sie war fest davon überzeugt, daß, wenn sie sich an jenem Abend klüger – sie war eben noch ein so kleines Kind – zu ihrer Mutter verhalten hätte, diese nicht einen so jammervollen Tod hätte erlei- den müssen. Die Mutter war damals schon zwei Tage ohne Arbeit gewesen, nicht das kleinste Geldstück war mehr vorhanden, der Tag war ohne einen Bissen im Freien verbracht worden und in ihren Bündeln schlepp- ten sie nur unbrauchbare Fetzen mit sich herum, die sie vielleicht aus Aberglauben sich nicht wegzuwerfen ge- trauten. Nun war der Mutter für den nächsten Morgen Arbeit bei einem Bau in Aussicht gestellt worden, aber sie fürchtete wie sie Terese den ganzen Tag über zu erklären suchte, die günstige Gelegenheit nicht ausnüt- zen zu können, denn sie fühlte sich totmüde, hatte schon am Morgen zum Schrecken der Passanten auf der Gasse viel Blut gehustet, und ihre einzige Sehnsucht war, ir- gendwo in die Wärme zu kommen und sich auszuruhn. Und gerade an diesem Abend war es unmöglich ein Plätzchen zu bekommen. Dort wo sie nicht schon vom Hausbesorger aus dem Torgang gewiesen wurden, in dem man sich immerhin vom Wetter ein wenig hätte erholen können, durcheilten sie die engen eisigen Korri- dore, durchstiegen die hohen Stockwerke, umkreisten die schmalen Terassen der Höfe, klopfen wahllos an Türen, wagten einmal niemanden anzusprechen, baten dann jeden der ihnen entgegenkam und einmal oder zweimal hockte die Mutter atemlos auf der Stufe einer stillen Treppe nieder, riß Terese, die sich fast wehrte, an sich und küßte sie mit schmerzhafem Anpressen der Lippen. Wenn man nachher weiß, daß das die letzten Küsse waren, begreif man nicht, daß man, und mag man ein kleiner Wurm gewesen sein, so blind sein konnte, das nicht einzusehn. In manchen Zimmern an denen sie vor- überkamen, waren die Türen geöffnet um eine ersticken- de Luf herauszulassen und aus dem rauchigen Dunst, der wie durch einen Brand verursacht die Zimmer erfüll- te, trat nur die Gestalt irgendjemandes hervor, der im Türrahmen stand und entweder durch seine stumme Ge- genwart oder durch ein kurzes Wort die Unmöglichkeit eines Unterkommens in dem betreffenden Zimmer be- wies. Terese schien es jetzt im Rückblick, daß die Mut- ter nur in den ersten Stunden ernstlich einen Platz such- te, denn nachdem etwa Mitternacht vorüber war, hat sie wohl niemanden mehr angesprochen, trotzdem sie mit kleinen Pausen bis zur Morgendämmerung nicht auför- te weiterzueilen und trotzdem in diesen Häusern, in de- nen weder Haustore noch Wohnungstüren je verschlos- sen werden, immerfort Leben ist und einem Menschen auf Schritt und Tritt begegnen. Natürlich war es kein Laufen, das sie rasch weiterbrachte, sondern es war nur die äußerste Anstrengung deren sie fähig waren, und es konnte in Wirklichkeit ganz gut auch bloß ein Schlei- chen sein. Terese wußte auch nicht, ob sie von Mitter- nacht bis fünf Uhr früh in zwanzig Häusern oder in zwei oder gar nur in einem Haus gewesen waren. Die Korridore dieser Häuser sind nach schlauen Plänen der besten Raumausnützung aber ohne Rücksicht auf leichte Orientierung angelegt, wie of waren sie wohl durch die gleichen Korridore gekommen! Terese hatte wohl in dunkler Erinnerung, daß sie das Tor eines Hauses, das sie ewig durchsucht hatten, wieder verließen, aber eben- so schien es ihr, daß sie auf der Gasse gleich gewendet und wieder in dieses Haus sich gestürzt hätten. Für das Kind war es natürlich ein unbegreifliches Leid, einmal von der Mutter gehalten, einmal sich an ihr festhaltend, ohne ein kleines Wort des Trostes mitgeschleif zu wer- den, und das Ganze schien damals für seinen Unver- stand nur die Erklärung zu haben, daß die Mutter von ihm weglaufen wolle. Darum hielt sich Terese desto fester, selbst wenn die Mutter sie an einer Hand hielt, der Sicherheit halber auch noch mit der andern Hand an den Röcken der Mutter und heulte in

Weitere Kostenlose Bücher