Der Verschollene
Abständen. Sie wollte nicht hier zurückgelassen werden, zwischen den Leuten, die vor ihnen die Treppen stampfend emporstie- gen, die hinter ihnen, noch nicht zu sehn, hinter einer Wendung der Treppe herankamen, die in den Gängen vor einer Tür Streit mit einander hatten und einander gegenseitig in das Zimmer hineinstießen. Betrunkene wanderten mit dumpfem Gesang im Haus umher und glücklich schlüpfe noch die Mutter mit Terese durch solche sich gerade schließende Gruppen. Gewiß hätten sie spät in der Nacht, wo man nicht mehr so acht gab und niemand mehr unbedingt auf seinem Recht bestand, wenigstens in einen der allgemeinen von Unternehmern vermieteten Schlafsäle sich drängen können, an deren einigen sie vorüberkamen, aber Terese verstand es nicht und die Mutter wollte keine Ruhe mehr. Am Morgen, dem Beginn eines schönen Wintertags, lehnten sie beide an einer Hausmauer und hatten dort vielleicht ein wenig geschlafen, vielleicht nur mit offenen Augen herumge- starrt. Es zeigte sich, daß Terese ihr Bündel verloren hatte, und die Mutter machte sich daran, Terese zur Strafe für die Unachtsamkeit zu schlagen, aber Terese hörte keinen Schlag und spürte keinen. Sie giengen dann weiter durch die sich belebenden Gassen, die Mutter an der Mauer, kamen über eine Brücke, wo die Mutter mit der Hand den Reif vom Geländer streife und gelangten schließlich, damals hatte es Terese hingenommen, heu- te verstand sie es nicht, gerade zu jenem Bau, zu dem die Mutter für jenen Morgen bestellt war. Sie sagte Terese nicht, ob sie warten oder weggehn solle, und Terese nahm dies als Befehl zum Warten, da dies ihren Wün- schen am besten entsprach. Sie setzte sich also auf einen Ziegelhaufen und sah zu, wie die Mutter ihr Bündel auf- schnürte, einen bunten Fetzen herausnahm und damit ihr Kopfuch umband, das sie während der ganzen Nacht getragen hatte. Terese war zu müde, als daß ihr auch nur der Gedanke gekommen wäre, der Mutter zu helfen. Ohne sich in der Bauhütte zu melden, wie dies üblich war, und ohne jemanden zu fragen, stieg die Mut- ter eine Leiter hinauf, als wisse sie schon selbst welche Arbeit ihr zugeteilt war. Terese wunderte sich darüber, da die Handlangerinnen gewöhnlich nur unten mit Kalklöschen, mit dem Hinreichen der Ziegel und mit sonstigen einfachen Arbeiten beschäfigt werden. Sie dachte daher, die Mutter wolle heute eine besser bezahl- te Arbeit ausführen und lächelte verschlafen zu ihr hin- auf. Der Bau war noch nicht hoch, kaum bis zum Erdge- schoß gediehn, wenn auch schon die hohen Gerüststan- gen für den weitern Bau, allerdings noch ohne Verbin- dungshölzer, zum blauen Himmel ragten. Oben um- gieng die Mutter geschickt die Maurer die Ziegel auf Ziegel legten und sie unbegreiflicher Weise nicht zur Rede stellten, sie hielt sich vorsichtig mit zarter Hand an einem Holzverschlag der als Geländer diente und Tere- se staunte unten in ihrem Dusel diese Geschicklichkeit an und glaubte noch einen freundlichen Blick der Mutter erhalten zu haben. Nun kam aber die Mutter auf ihrem Gang zu einem kleinen Ziegelhaufen, vor dem das Ge- länder und wahrscheinlich auch der Weg auförte, aber sie hielt sich nicht daran, gieng auf den Ziegelhaufen los, ihre Geschicklichkeit schien sie verlassen zu haben, sie stieß den Ziegelhaufen um und fiel über ihn hinweg in die Tiefe. Viele Ziegel rollten ihr nach und schließlich eine ganze Weile später löste sich irgendwo ein schweres Brett los und krachte auf sie nieder. Die letzte Erinne- rung Tereses an ihre Mutter war, wie sie mit auseinan- dergestreckten Beinen dalag in dem karierten Rock, der noch aus Pommern stammte, wie jenes auf ihr liegende rohe Brett sie fast bedeckte, wie nun die Leute von allen Seiten zusammenliefen und wie oben vom Bau irgendein Mann zornig etwas hinunterrief.
Es war spät geworden, als Terese ihre Erzählung be- endet hatte. Sie hatte ausführlich erzählt, wie es sonst nicht ihre Gewohnheit war und gerade bei gleichgültigen Stellen, wie bei der Beschreibung der Gerüststangen, die jede allein für sich in den Himmel ragten, hatte sie mit Tränen in den Augen innehalten müssen. Sie wußte jede Kleinigkeit, die damals vorgefallen war jetzt nach zehn Jahren ganz genau, und weil der Anblick ihrer Mutter oben im halbfertigen Erdgeschoß das letzte Andenken an das Leben der Mutter war und sie es ihrem Freunde gar nicht genug deutlich überantworten konnte, wollte sie nach dem Schlusse ihrer Erzählung noch einmal dar-
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