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Der Verschollene

Der Verschollene

Titel: Der Verschollene Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Kafka
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die Verhält- nisse im Schlafsaal, denn erstens trugen im Ganzen und Großen alle Jungen schwer daran ohne sich ernstlich zu beklagen und zweitens war die Plage im Schlafsaal ein notwendiger Teil seiner Aufgabe als Lifjunge, die er ja aus den Händen der Oberköchin dankbar übernommen hatte.
       Einmal in der Woche hatte er beim Schichtwechsel vierundzwanzig Stunden frei, die er zum Teil dazu ver- wendete bei der Oberköchin ein zwei Besuche zu ma- chen und mit Terese deren kärgliche freie Zeit er abpaßte irgendwo in einem Winkel, auf einem Korridor und selten nur in ihrem Zimmer einige flüchtige Reden auszutauschen. Manchmal begleitete er sie auch auf ih- ren Besorgungen in der Stadt, die alle höchst eilig ausge- führt werden mußten. Dann liefen sie fast, Karl mit ihrer Tasche in der Hand, zur nächsten Station der Unter- grundbahn, die Fahrt vergieng im Nu, als werde der Zug ohne jeden Widerstand nur hingerissen, schon waren sie ihm entstiegen, klapperten statt auf den Aufzug zu war- ten, der ihnen zu langsam war, die Stufen hinauf, die großen Plätze, von denen sternförmig die Straßen aus- einanderflogen, erschienen und brachten ein Getümmel in den von allen Seiten geradlinig strömenden Verkehr, aber Karl und Terese eilten, eng beisammen in die ver- schiedenen Bureaux, Waschanstalten, Lagerhäuser und Geschäfe, in denen telephonisch nicht leicht zu besor- gende, im übrigen nicht besonders verantwortliche Be- stellungen oder Beschwerden auszurichten waren. Te- rese merkte bald, daß Karls Hilfe hiebei nicht zu verach- ten war, daß sie vielmehr in vieles eine große Beschleuni- gung brachte. Niemals mußte sie in seiner Begleitung wie sonst of darauf warten, daß die überbeschäfigten Geschäfsleute sie anhörten. Er trat an den Pult und klopfe auf ihn solange mit den Knöcheln, bis es half, er rief über Menschenmauern sein noch immer etwas über- spitztes, aus hundert Stimmen leicht herauszuhörendes Englisch hin, er gieng auf die Leute ohne Zögern zu und mochten sie sich hochmütig in die Tiefe der längsten Geschäfssäle zurückgezogen haben. Er tat es nicht aus Übermut und würdigte jeden Widerstand, aber er fühlte sich in einer sichern Stellung, die ihm Rechte gab, das Hotel occidental war eine Kundschaf, deren man nicht spotten durfe und schließlich war Terese trotz ihrer geschäflichen Erfahrung hilfsbedürfig genug. „Sie soll- ten immer mitkommen", sagte sie manchmal glücklich lachend, wenn sie von einer besonders gut ausgeführten Unternehmung kamen.
      Nur dreimal während der anderthalb Monate, die Karl in Ramses blieb, war er längere Zeit über ein paar Stun- den in Tereses Zimmerchen. Es war natürlich kleiner als irgend ein Zimmer der Oberköchin, die paar Dinge welche darin standen, waren gewissermaßen nur um das Fenster gelagert, aber Karl verstand schon nach seinen Erfahrungen aus dem Schlafsaal den Wert eines eigenen verhältnismäßig ruhigen Zimmers und wenn er es auch nicht ausdrücklich sagte, so merkte Terese doch, wie ihm ihr Zimmer gefiel. Sie hatte keine Geheimnisse vor ihm und es wäre auch nicht gut möglich gewesen, nach ihrem Besuch damals am ersten Abend noch Geheimnis- se vor ihm zu haben. Sie war ein uneheliches Kind, ihr Vater war Baupolier und hatte die Mutter und das Kind aus Pommern sich nachkommen lassen, aber als hätte er damit seine Pflicht erfüllt oder als hätte er andere Men- schen erwartet, als die abgearbeitete Frau und das schwache Kind, die er an der Landungsstelle in Empfang nahm, war er bald nach ihrer Ankunf ohne viel Erklä- rungen nach Kanada ausgewandert, und die Zurückge- bliebenen hatten weder einen Brief noch eine sonstige Nachricht von ihm erhalten, was zum Teil auch nicht zu verwundern war, denn sie waren in den Massenquartie- ren des New Yorker Ostens unauffindbar verloren.
       Einmal erzählte Terese – Karl stand neben ihr beim Fenster und sah auf die Straße – vom Tode ihrer Mutter. Wie die Mutter und sie an einem Winterabend – sie konnte damals etwa fünf Jahre alt gewesen sein – jede mit ihrem Bündel durch die Straßen eilten, um Schlaf- stellen zu suchen. Wie die Mutter sie zuerst bei der Hand führte, es war ein Schneesturm und nicht leicht vorwärtszukommen, bis die Hand erlahmte und sie Te- rese ohne sich nach ihr umzusehn losließ, die sich nun Mühe geben mußte, sich selbst an den Röcken der Mut- ter festzuhalten. Of stolperte Terese und fiel sogar, aber die Mutter war wie in einem Wahn und hielt

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