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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Rouzé
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zu weit vorgewagt hat und den Rückweg zwischen Feldern von Treibsand nicht schnell genug findet oder daß man an einer uneben verlaufenden Küste plötzlich von einer Nebelbank eingehüllt wird und Gefahr läuft, durch Wasserlöcher vom Ufer abgeschnitten zu werden. Sonst aber ist es nicht schwer, dem Wasser zuvorzukommen, selbst in der Bucht von Saint-Michel, obwohl man sagt, dort sei die Flut so schnell wie ein galoppierendes Pferd. Raymond entsann sich eines Ferienerlebnisses in der Bretagne. Er hatte sich eines Morgens beim Angeln auf einer schmalen Uferböschung verspätet. Die Fische hatten nicht angebissen, und als er den Weg zurücklaufen wollte, den er gekommen war, fand er ihn schon unter Wasser. Die Flut stieg schnell und hatte fast schon seinen Angelplatz erreicht. Nur durch ein gefährliches Kletterkunststück vermochte er sich gerade noch zu retten.
    Damals war er sich der Gefahr bewußt gewesen. Aber über ihm leuchtete der blaue Himmel, und die Welt um ihn her lag hell und sonnenüberglänzt. Sein Heil hing von seiner Kraft und Geschicklichkeit ab. Er konnte handeln und versuchen, sich gegen die Naturkräfte zu behaupten: gegen das Felsgestein, von dem kein Stück unter seiner Hand wegbrechen durfte, und gegen das Meer, diese schäumende Flut, die hartnäckig immer wildere Wogen zum Sturmangriff gegen ihn einsetzte. Aber die Wellen brachen sich an der Klippe und fielen erschöpft zurück, und als Raymond sich auf der Heide in Sicherheit fand, fühlte er nicht einmal den Stechginster, der nach seinen nackten Beinen griff, sondern nur das heiße Glück, gesiegt zu haben.
    Hier unten war alles ganz anders. Es gab keine Wogen, nicht die kleinste Welle an der Oberfläche dieses dunklen Wassers, das schweigend und unerbittlich höher stieg; eine blinde Macht, gegen die sich niemand zur Wehr setzen konnte. Kein Himmel, keine Sonne zu seinen Häupten, nichts als feuchtes Felsgestein und das schwache Licht der elektrischen Lampe, das sich auf der düsteren Fläche widerspiegelte.
    Raymond dachte an eine bestimmte Sorte Rechenaufgaben, über denen er manchmal bis in die Nacht gesessen hatte. Sie glichen sich alle, und doch hatte jede ihre besonderen Tücken. Immer war da gleichsam ein Becken von gegebener Größe; es wurde durch einen Wasserhahn gefüllt, den man aufzudrehen verstehen mußte. Manchmal gab es auch zwei Hähne, aus denen das Wasser verschieden stark strömte, oder ein Abflußventil, und natürlich war zu vermeiden, sie alle gleichzeitig zu öffnen. In wieviel Stunden, Minuten, Sekunden würde das Becken voll- oder leergelaufen sein?
    „Also, Raymond, was machen wir?“
    Suzanne erkundigte sich mit so ruhiger Stimme, als handle es sich darum, irgendeinem langweiligen Spaziergang ein neues Ziel zu setzen. Aber alle hatten verstanden, was hinter der Frage stand. Das Wasser kam näher und näher. Nicht lange, dann würde es auch die Steinbank erreicht haben. Raymond zuckte die Achseln.
    „Wir haben keine große Auswahl. Hier drüben führt der Gang aufwärts. Wir müssen also weitergehen, bis das Wasser uns nicht mehr nachkommen kann. Und dann müssen wir eben auf die Ebbe warten.“
    „Die Ebbe? Glaubst du denn, daß das Wasser mit der Flut zusammenhängt? “
    „Womit denn sonst? Diese Wasserspiele sind nicht eigens zu Ehren unseres Besuches veranstaltet worden. Der unterirdische Gang steht mit dem Strand draußen in Verbindung, und der tieferliegende Teil ist wie eine Mulde, die sich mit Wasser füllt, wenn die Flut kommt, und sich wieder leert, sobald sie zurückgeht. Darum ist hier alles so feucht und voller Algen und Moose. Gehen wir ein Stück höher, dann sind wir im Trockenen und brauchen nur noch zu warten.“
    „Lange?“
    Raymond warf einen Blick auf seine Uhr.
    „Es ist ein Viertel vor drei. Gegen vier Uhr hat das Meer seinen Höchststand erreicht. Die Flut steigt also noch fünf Viertelstunden weiter. Sie bleibt für eine ganz kurze Zeit stehen, dann beginnt sie zu sinken, und nach einer Stunde und fünfzehn Minuten ist sie auf dem jetzigen Stand angelangt. Bis der Weg wieder frei wird, dauert es eine weitere Viertelstunde. Das heißt alles in allem, daß wir drei Stunden zu warten haben. Das ist natürlich kein Vergnügen, aber es bleibt uns nichts anderes übrig.“
    Das Vordringen über den großen Stein hinaus gestaltete sich nicht einfach. Der Gang wurde eng und niedrig. Er war mit glitschigen Steinen übersät, auf denen man bei jedem Schritt ausrutschen und sich den Fuß

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