Der versunkene Wald
Meerkatzen hatten nichts als ihre Hände. Aber sie verzweifelten nicht. Sie machten sich daran, die Mauer zu durchbrechen.
„Jean, du hältst die Lampe! Sieh zu, daß du uns gut leuchtest!“
Raymond und Pierre erklommen den Felshaufen, so hoch sie konnten, und gingen ans Werk. Sie mußten schnell und dabei doch mit größter Achtsamkeit handeln. Eile war geboten, denn das Wasser stieg unerbittlich höher und höher. Trotzdem mußte jeder falsche Handgriff vermieden werden. Ein unvorsichtig aus seiner Lage gebrachter Stein konnte eine Katastrophe verursachen.
Ohne einen Augenblick die Arbeit zu unterbrechen, gab Raymond dem Gefährten seine Anweisungen:
„Erst herunter mit allen losen Brocken, Pierre! Dann versuchst du vorsichtig, an denen zu rütteln, die fester sitzen. Wo es gar nicht geht, fassen wir zu zweit an. Du, Jacques, bleibst hinter mir, und du, Suzanne, stellst dich hinter Pierre. Ihr schafft alles nach hinten, was wir nicht einfach werfen können. Legt damit den Gang aus, so gut ihr könnt, damit der Boden höher wird.“
Die Enttrümmerungsarbeiten gingen erstaunlich schnell voran. Fünf Leute, die sich kameradschaftlich zur Hand gehen, schaffen soviel wie fünfzig, die nur an sich selber denken. Einer der Großen, auf einem Steinvorsprung hockend, löste einen Stein und rief:
„Achtung da hinten!“
Sofort sprangen die Kleinen und Suzanne beiseite. Der Felsbrocken fiel. Wenn es Form und Gewicht eines Steines erlaubten, nahmen die Helfer ihn entgegen und legten ihn zu den übrigen am Boden. Jean stellte sich mit der Lampe sehr geschickt an. Er erriet jede Absicht der beiden Großen und richtete den Lichtstrahl immer dahin, wo es besonders wichtig war, genau zu sehen. Seltsam: die Steine waren nicht nur von ganz verschiedener Größe, auch ihre Beschaffenheit war unterschiedlich. Da gab es große ovale Kiesel, wie sie an manchen Ufern zu finden sind, in Jahrtausenden von den Fluten geschliffen und poliert, und wieder andere, scharfkantige Steine, die wie aus den Felsen herausgesprengt wirkten.
Aber Raymond und Pierre hatten jetzt keine Zeit für Vermutungen, wie der unterirdische Gang entstanden sein könnte, in dem sie durch ihren Leichtsinn eingesperrt waren. Sie warfen Trümmer auf den Boden, sie lockerten Felszacken und fühlten kaum die Kratzer und Wunden an ihren Händen. Beim Versuch, einen großen Stein loszubekommen, der nachgab und gefährlich ins Rutschen geriet, quetschte Pierre sich böse einen Finger. Er unterdrückte ein Stöhnen und arbeitete weiter.
Sie schleuderten die kleineren Brocken hinter sich durch die Luft. Die ersten stürzten polternd zu Boden. Dann aber folgte einer, bei dessen Aufschlag es klang, als fiele er ins Nasse.
„Hast du das gehört?“ murmelte Jacques. „Das Wasser kommt …“
„Ja, es kommt. Hast du vielleicht Lust, ein paar Sternchen darüberflitschen zu lassen? Das heb dir für ein andermal auf. Da, halt fest!“
Das Gewicht des riesigen Blockes, den Jacques zu schleppen bekam, warf ihn fast um. Er biß die Zähne zusammen, hielt aus und trug die Last zu dem ihr bestimmten Platz.
Bald erreichte sie die Flut vor der Mauer. Sie plätscherte leise zwischen den Steinen, aus denen sie ihren kunstlosen Schutzwall errichtet hatten. Noch standen die drei Helfer im Trockenen. Die beiden Großen arbeiteten in fieberhafter immer wilderer Eile. Sie hatten jetzt nahe der Decke des Ganges, die schräg aufwärts lief, eine Höhlung geschaffen, die über dem Wasserspiegel der höchsten Fluten lag. Es galt jetzt nur noch, diese Nische so zu erweitern, daß alle darin Platz finden konnten.
„Jean, gib mal die Lampe her!“
Raymond schien etwas entdeckt zu haben.
Es war etwas Neues und etwas Schreckliches. Kein Zweifel war möglich. Die Wand, die sie zu durchbrechen unternommen hatten, war kein natürlicher Felsrutsch. Hinter den mit so unendlicher Mühe herausgebrochenen Blöcken zeigte sich ein noch viel schlimmeres Hindernis: ein Mauerwerk aus riesigen, festgefügten Steinplatten. Ohne die Lampe zurückzugeben und ohne den Gefährten etwas von ihrer Entdeckung zu verraten, setzten die beiden Jungen ihre Arbeit fort. Nach fünf Minuten hatten sie eine der Platten vollkommen freigelegt. Sie arbeiteten fast auf dem Bauch liegend in der Nische, die jetzt eine Tiefe von etwa anderthalb Metern hatte. Es blieb ihnen nun nichts weiter zu tun übrig, als die Höhle nach den Seiten hin zu verbreitern und dann zu versuchen, ob alle fünf darin Platz haben würden.
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