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Der versunkene Wald

Titel: Der versunkene Wald Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michel Rouzé
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brechen konnte. Die Felsenvorsprünge warfen Schatten, die wie Kobolde zwischen den verzerrten Umrissen der mühsam vorwärts Kletternden umhertanzten. Sie verloren das Gefühl für Hindernisse und Entfernungen, sie stolperten, stürzten, standen mühsam wieder auf. Hinter einem großen, aufragenden Stein glaubte Pierre seinen Fuß aufsetzen zu können und stieß im Dunkeln an eine Felszacke. Aber im Gedanken an das Wasser, das ihnen aus der Finsternis nachkroch wie eine nasse, auf ihre Beute zuschnellende Schlange, setzten sie mit aller Energie ihren Weg fort.
    Raymond ging als letzter, um den Kameraden zu leuchten. Plötzlich stolperte Pierre wieder, richtete sich brummend auf und blieb stehen.
    „Was ist los? Hast du dir etwas getan?“
    „Es geht nicht weiter, Raymond. Der Gang ist zu Ende.“ Raymond schob sich nach vorn und leuchtete mit der Lampe ab, was sich ihnen in den Weg stellte: Hier hatte es einen Felsrutsch gegeben, und die aufeinandergestürzten Brocken ließen keinen Spalt frei, durch den ein menschliches Wesen hätte einen Durchschlupf finden können. Es ging wirklich nicht weiter.
    „Macht nichts“, sagte Raymond. „Seht euch die Steine an. Sie sind vollkommen trocken. Wir können uns hinsetzen und abwarten. Bis hierher reicht das Wasser nicht.“
    „Es kommt darauf an“, murmelte Pierre.
    „Worauf kommt es an?“
    „Auf die Höhe der Flut, Raymond. Schau dir die Felsen ein bißchen genauer an.“
    Pierre hatte recht. Wohl gab es hier keine Algen mehr, und das bedeutete, daß der kurze Weg von der Steinbank bis zu diesem Platz genügt hatte, die Meerkatzen aus dem von der Flut überschwemmten Teil des Ganges herauszuführen. Aber sie brauchten die Felsen nur aufmerksam zu betrachten, um zu erkennen, daß sie die äußerste Grenze des Flutbereiches keinesfalls überschritten hatten. Der Pegelstand des Wassers während der vergangenen Monate war gleichsam daran abzulesen, wie stark Salz und Nässe sich auf dem Gestein niedergeschlagen hatten. Die oberen, nur selten von der Flut erreichten Kanten wiesen eine graue Färbung auf, über die sich Linien von mineralischen Ablagerungen zogen. Ganz oben in Höhe der Deckenwölbung erschien etwas wie ein rostgelber Überzug, der an den Enden girlandenartig herabhing. Das waren Flechten. Sie bewiesen, daß bis dort hinauf das Meer nicht gelangte. Aber diese tröstliche Hülle kam nicht bis zu den Seitenwänden hinab. Man konnte aus alledem mit Gewißheit schließen, daß zur Zeit der Springfluten das Wasser den freien Raum des Ganges fast völlig überschwemmte und in alle Ritzen des aufgetürmten Felsgesteins drang.
    Die beiden Großen sahen sich an. Sie brauchten kein Wort zu sprechen, um zu wissen, daß sie den gleichen Gedanken hatten. Die Springfluten hatten eingesetzt, darum war es schon nicht mehr möglich gewesen, die Räder und das Moped am Strand vor dem ,Mont‘ abzustellen. Gewiß, es waren noch nicht die Springfluten der Tag- und Nachtgleiche; die Flut würde den höchstmöglichen Stand nicht erreichen. Aber viel würde nicht daran fehlen, ein Meter vielleicht oder sogar weniger. Ein Meter unterhalb des Flechtenteppichs: das bedeutete, daß das Wasser ihnen fast bis zum Kopf reichen würde. Genau genommen könnte wohl nur Pierre darüber hinausragen. Wenn die anderen nicht ertrinken wollten, würden sie sich an der Felswand hochziehen und sich an einer ihrer Zacken anklammern müssen. Wie lange könnten sie das aushalten? Und selbst wenn sie es schafften, war die Aussicht auf ein längeres Bad hier unten nicht eben verlockend …
    Das Wasser! Schon hatte es sie wieder eingeholt und rann still um die am Boden verstreuten Steine, bis es einen nach dem anderen überspülte und verschwinden ließ.
    Raymond hob nochmals die Lampe zu dem Felsrutsch und ließ das Lidit in alle Ritzen dringen.
    „Wir gehen weiter“, entschied er. „Es muß sein.“
    „Aber wie sollen wir zwischen den Steinen durchkommen? Wir sind schließlich keine Asseln.“
    „Eben. Wir sind Menschen. Wir können Steine aus dem Weg räumen. Dahinter geht es weiter aufwärts. Man sieht das von hier aus sehr gut. Wenn wir nur einen oder zwei Meter höher kommen, sind wir gerettet.“
    Es war leichter gesagt als getan. Einige der Steine hatten das Ausmaß ganzer Felsblöcke. Ihr Gewicht hatte sie fest ineinandergefügt; es war, als gelte es, eine Mauer zu durchbrechen. Arbeiter sind für solche Unternehmungen mit Hebestangen, Hacken und anderem Werkzeug versehen. Die

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