Der versunkene Wald
einem regelmäßig geschnittenen Gang von etwa zwei Meter Breite und ebensolcher Höhe. Die Wände schimmerten in bläulichem Schiefer. Der Boden war trocken. Nur eine kleine feuchte Rinne verlor sich im Felsgestein. Bis hierher gelangte die Flut niemals. Die Meerkatzen waren vor dem Ertrinken gerettet. Für den Augenblick genügte ihnen dieses Bewußtsein. Und dann: daß sie der Gefahr entronnen waren, das dankten sie nicht irgendeinem glücklichen Zufall, sondern ihrem zähen Willen und der eigenen Tapferkeit. Was wäre aus ihnen geworden, wenn der Mut sie verlassen hätte, als ihnen der Rückzug durch die Flut abgeschnitten war? So hatten sie auch jetzt, trotz ihrer seltsamen Lage an diesem geheimnisvollen Ort, alles Vertrauen in den guten Ausgang ihres Abenteuers.
„Wie wär’s, wenn wir einen Happen zu uns nehmen würden?“ schlug Raymond vor.
Der Beifall hallte lange im Echo des unterirdischen Ganges wider. Der Stimmungsumschwung hatte bei allen den Appetit kräftig angeregt.
Der Tornister wurde auf den Boden gelegt und aufgeschnallt. Trotz der Glätte der Mauern fand sich ein kleiner Vorsprung im Schiefer, auf dem die Lampe Platz finden konnte, so daß sie nun nicht mehr bei jeder Bewegung ihres Trägers hin und her schwankte.
Was allerdings diese Lampe betraf, so hegte Raymond schon eine Weile stille Besorgnisse. Aber er behielt seine Gedanken lieber für sich.
Es wurde das vergnügteste Picknick der Welt. Die ausgebrochene Steinplatte, die am Boden lag, wurde hochgekantet und diente als Tisch. Sie war zwanzig Zentimeter dick und mehr als einen Meter lang und bestand aus schönem, viereckig gemeißeltem Granit. Wie eine gute Hausfrau zerteilte Suzanne ein Weißbrot in gleich große Stücke. Jean öffnete eine Pastetenbüchse. Pierre schraubte den Deckel eines Butterbehälters ab.
„Gibst du uns von deiner Anchovispaste etwas ab, Raymond?“
„Eben wollte ich sie euch anbieten. Als Vorspeise kann es gar nichts Besseres geben!“
Die Brote mit Anchovis und Pastete waren schnell vertilgt. Dann ging man zu dem herrlichen Schweinebraten über, den Frau Lefevre gestern abend für den Ausflug ihrer Jungen zubereitet hatte. Man mußte nach all dem ausgestandenen Schrecken ja wieder zu Kräften kommen. Der in Carolles gekaufte Käse beschloß das Festmahl. Sie begossen ihn mit rotweingefärbtem Wasser, das gerecht geteilt wurde. Der Proviant war nun nahezu aufgebraucht. Auf dem Rückweg würde der Tornister nicht mehr schwer auf Raymonds Schultern lasten.
Der Rückweg — sie dachten nun, da sie satt waren, alle an ihn. Wohl war die Versuchung groß, ein wenig weiter zu gehen, um zu ergründen, wohin der Gang noch führen könnte. Aber seit den letzten bösen Erfahrungen waren die fünf Höhlenforscher vorsichtiger geworden.
„Wieviel Uhr ist es?“ fragte Pierre.
„Fünf Uhr. Die Flut geht schon seit einem Weilchen zurück. Wir können uns fertigmachen. Zwischen fünf und halb sechs wird der Weg wieder frei sein.“
„Raymond!“ rief Pierre mit so erschrockener Stimme, daß alle begriffen: es mußte ihm ein furchtbarer Gedanke gekommen sein. „Raymond! Wie sollen wir da eigentlich wieder hinaufkommen?“
Sie standen wie angewurzelt.
Keiner von ihnen hatte sich das überlegt.
Und doch hätten sie sich gleich sagen müssen, daß der Aufstieg über die ,Schlittenbahn‘ kein leichtes Unterfangen werden würde. Schweigend beluden sie sich mit ihrem Gepäck und versuchten, den Hang zu erklimmen, obwohl sie bald einsahen, daß sie nie oben ankommen könnten, wenn ihnen kein glücklicher Zufall zu Hilfe käme. Die ersten Meter schafften sie ohne besondere Schwierigkeit, doch dann wurde der Hang so steil, daß es unmöglich war weiterzuklettern. Der Boden bot keinen Halt mehr. Der Sand, der ihnen den Abrutsch erleichtert hatte, hinderte sie jetzt am Höherkommen. Hatten sie wirklich mühsam kriechend einen halben Meter hinter sich gebracht, glitten sie auch schon wieder ab und fanden erst wieder neuen Halt, wo kahler Boden war. Nach ein paar vergeblichen Versuchen fing Suzanne plötzlich an zu lachen.
„Du findest es wohl sehr komisch?“ fragte Raymond verärgert.
„Allerdings! Wenn du dich bloß sehen könntest! Ich habe einmal so etwas auf einem Jahrmarkt erlebt. Da war eine Bude, aus der man nicht wieder herauskam. Man mußte über einen Steg gehen, der sich bewegte, und flog dabei hintenüber.“
„Der ganze Unterschied ist nur, daß wir hier auf keinem Jahrmarkt sind. Viel eher könntest
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