Der versunkene Wald
diesen schönen Vorsatz in die Tat umzusetzen. Sie badeten bei steigender Flut, und sie sammelten allerhand Muscheln, als die Ebbe eintrat und der weite Strand in der Dämmerung wie eine endlose Wüstenlandschaft aussah. Aber ihre Herzen waren nicht dabei. Unaufhörlich mußten die drei an ihre abwesenden Freunde denken, auf die sie sich gefreut hatten und mit denen sie ein herrliches Ferienende hatten verbringen wollen. Punkt Eins und Punkt Zwei hätten sich eher in Stücke schneiden lassen, als zuzugeben, wie groß ihre Enttäuschung war. Aber von Stunde zu Stunde geriet ihr Entschluß mehr ins Wanken. Michel beobachtete sie im stillen und wartete auf einen günstigen Augenblick:.
„Gute Nacht!“ sagte er, als sie sich wieder im Zelt zusammengedrängt hatten. „Es war ein schöner Tag, nicht?“
„Sehr schön“, antwortete Punkt Eins trocken. „Gute Nacht!“
„ …Nacht!“ grunzte Punkt Zwei, ohne sich weiter zu äußern.
Michel grinste im Dunkeln, legte sich so, daß er möglichst wenig Platz einnahm, und gab sich Mühe einzuschlafen.
Am nächsten Morgen, am Mittwoch, war die Küste in Nebel gehüllt, als sie die Nasen aus dem Zelt steckten. Nicht einmal der ,Mont‘ war mehr zu sehen. Der nahe Herbst kündete sich an.
„Ich weiß nicht — sollen wir nicht lieber nach Hause fahren?“ fragte Punkt Eins fröstelnd.
„Warum denn?“ protestierte sein Bruder. „Gestern hast du ganz anders geredet. Die Eltern erwarten uns nicht vor Freitag.“
„Ja, aber sie glauben, daß Raymond bei uns ist. Sonst hätten sie wahrscheinlich nicht erlaubt, daß wir hier zelten, weil sie finden, daß wir dazu noch nicht alt genug sind. Und im übrigen: Was sollen wir denn noch drei Tage bei solchem Wetter anfangen?“
Michel fühlte, daß seine Stunde gekommen war.
„Wenn wir heute nach Hause fahren, müssen wir erzählen, daß wir niemanden im Lager gefunden haben. Dann bekommt Raymond von seinen Eltern eins aufs Dach, und wir dürfen nächstes Jahr nicht wieder mit ihm wegfahren. Das wäre das Ende für den Stamm der Meerkatzen!“
Hätte Michel ihnen diese Rede gestern gehalten, so hätten Punkt Eins und Punkt Zwei unweigerlich geantwortet, Raymonds Schicksal sei ihnen gleichgültig und sie hätten nicht die leiseste Absicht, im nächsten Sommer noch einmal mit ihm zu zelten. Aber inzwischen hatten sie die Dinge beschlafen, und so fragte Punkt Eins:
„Gut — und was schlägst du vor?“
„Das Wetter ist nicht so schlecht, daß wir nicht von hier aus ein paar schöne Radtouren machen könnten. Es ist zwar neblig, aber es regnet ja nicht. Und die Sonne wird schon noch durchkommen. Ich denke, wir behalten unser Lager in Courtils bis Freitag als Stützpunkt. Aber tagsüber bleiben wir nicht hier, sondern treiben uns ein bißchen in der Gegend herum. Wer weiß? Vielleicht treffen wir irgendwo Raymond und die anderen …“
„Wenn wir sie treffen, dann wird das reiner Zufall sein“, betonte Punkt Eins.
„Sie sollen nur ja nicht denken, daß wir etwa nach ihnen gesucht hätten!“ bekräftigte Punkt Zwei.
Michel gönnte ihrem Stolz diese Genugtuung.
Eine Stunde später radelten die drei Jungen, ein kräftiges Frühstück im Leibe, auf der Straße nach Courtils dahin. Von neun Uhr morgens bis sechs Uhr abends durchforschten sie den ganzen Küstenstrich zwischen Pontorson, Avranches und dem Meere. Die Ortschaften Huisnes, Beauvoirs und Servon hallten nacheinander wider von den Urra-a-uh!-Rufen, die sie vergebens in alle Winde schrieen. Bei Sonnenuntergang erreichte die Patrouille der drei Meerkatzen Pontorson, fuhr weiter auf der zum Mont Saint-Michel führenden Straße und machte halt am Beginn des Dammes, wo ein großer Platz zum Zelten freigegeben ist. Niemand wußte dort etwas von Raymond und seinen Kameraden.
Die Rückfahrt vollzog sich ziemlich trübselig. Beim Nachtisch, der aus unterwegs gepflückten Brombeeren bestand, schlug Michel vor:
„Wie wär’s, wenn wir morgen mal in die Bretagne führen?“
„In die Bretagne?“ wiederholte Punkt Eins erstaunt.
„Warum nicht? Wir brauchen nur von Pontorson aus ein Stück weiterzuradeln. Das wollten wir ja schon voriges Jahr, aber dann kam irgend etwas dazwischen, wißt ihr nicht mehr?“
Mit diesem Gedanken schliefen sie ein. Am Donnerstag morgen lag der Nebel über der Küste noch immer dicht, aber es war nicht kalt.
„Genau das richtige Wetter, um in die Bretagne zu fahren“, versicherte Michel.
Der Plan heiterte sie auf. Wenn der
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