Der versunkene Wald
unseren Eltern reden“, erklärte Punkt Eins mit großer Entschiedenheit.
„Herr Faugeras hat Telefon. Wir können ihn anrufen.“
„Er ist jetzt wahrscheinlich gar nicht daheim. Wir würden nur Zeit verlieren, wenn wir auf die Verbindung warten. Am besten fahren wir nach Hause und benachrichtigen von dort aus alle Familien so schnell wie möglich.“
„Also los!“
„Einen Moment!“ sagte Michel. „Wir sind am ,Mont‘ überall gewesen, nur nicht in der Abtei. Vielleicht haben die Fremdenführer Raymond gesehen, was meint ihr?“
„Unsinn!“ widersprach Punkt Zwei. „Glaubst du etwa, daß Meerkatzen auf die alberne Idee kommen, sich wie gewöhnliche Touristen durch die Abtei führen zu lassen?“
„Und selbst wenn sie sich den Spaß gemacht hätten, was würde es uns nützen, wenn wir das wüßten? Da oben können sie nicht geblieben sein. Die Abtei ist schließlich kein Hotel!“
„Und wenn sie sich in den Kellerräumen verirrt haben?“ wagte Michel einzuwerfen. „Wir könnten die Führer bitten, uns suchen zu helfen …“
Die Brüder zuckten mit den Achseln. Trotzdem zog es Michel mit einem unerklärlichen Drang nach der Abtei. Fast hätte er die Zwillinge gebeten, auf ihn zu warten; er wollte allein zur Abtei gehen … Dann aber dachte er an die unzähligen Stufen, die da hinauf führten. Es war sicher richtig: Sie durften keine Minute Zeit verlieren, sie mußten den Eltern sofort Nachricht geben …
Die Jungen versprachen dem Parkwächter, daß sie mit ihren Freunden wiederkommen würden, um die Räder abzuholen, und bezahlten ihm den Preis für eine Woche voraus.
Dann sausten sie, mit aller Kraft die Pedale tretend, davon und die Küstenstraße entlang. Die Angst preßte ihnen das Herz zusammen. Punkt Eins und Punkt Zwei erinnerten sich voller Reue an das Häßliche, was sie von den Kameraden gedacht hatten, als sie sich von ihnen im Stich gelassen glaubten …
Sie kamen am Lagerplatz von Courtils vorbei und warfen einen traurigen Blick hinüber.
Es war Ebbe. Der leichte Nebel ließ die Umrisse des Mont Saint-Michel und der Felseninsel von Tombelaine ahnen. Von Tombelaine stieg langsam Rauch zum Himmel; allmählich breitete er sich aus wie ein Tuch, dann zerfaserte er im Wind.
„Seht mal, ein Grasbrarid“, bemerkte Punkt Zwei.
„Oder ein Lagerfeuer“, meinte Punkt Eins.
„Das würde mich wundern“, sagte Michel. „Wer kommt schon auf das Inselchen?“
Und sie setzten ihren Weg nach Avranches fort.
VII. Kapitel
DIE BEGRABENE SONNE
Raymond Lefevre träumte.
Er lag mit schmerzenden Gliedern auf dem harten Lager, und wenn er die Augen aufschlug, würde Finsternis um ihn sein und Todesdrohung. Aber er träumte, er läge daheim in Granville in seinem weichen Bett. Seine Mutter zog die Vorhänge auf und brachte ihm den Morgenkaffee. Die Sonne durchleuchtete warm das ganze Zimmer, und der köstliche Duft des Frühstücks stieg beglückend in seine Nase.
Auch der schönste Traum endet einmal. Stück um Stück kehrte in Raymond das Bewußtsein der Wirklichkeit zurück. Ohne daß er sich im geringsten bewegte, wurde die Matratze, auf der er zu liegen glaubte, hart und härter und schließlich zu Stein, und er fühlte, daß Hüften und Schultern schmerzten und wie zerschlagen waren. Das freundliche Bild seines Zimmers in Granville verblaßte, und der finstere Tunnel war wieder um ihn. Er öffnete die Lider und blickte statt in strahlendes Morgenlicht in rötliches Dunkel.
Aber, merkwürdig, der Duft nach Kaffee blieb. Ja, er wurde sogar noch kräftiger. Raymond atmete den unwahrscheinlichen Wohlgeruch tief in sich ein und erwachte vollends. Nein, es war keine Täuschung, die ihn genarrt hatte! Ein starker Kaffeeduft breitete sich immer intensiver aus. Rötlicher Lichtschein tanzte über die Mauer und beleuchtete schwach die Gruppe der Schläfer. Suzanne fehlte.
Raymond setzte sich mit einem Schwung auf. Das Mädchen stocherte in einem Feuer, das vor dem Meilenstein brannte. Ein dampfendes Kochgeschirr stand auf dem Stein. Mit zwei Sprüngen war Raymond bei Suzanne.
„Was tust du da?“
„Das siehst du ja. Ich bin aufgestanden und mache Frühstück. Du kommst gerade zur Zeit, der Kaffee ist fertig. Darf ich bitten?“
Raymond blieb vor Staunen das Wort im Halse stecken. Aber schon waren auch die anderen Jungen wach geworden und rührten sich.
„Wo sind wir?“ murmelte Jacques und reckte sich.
„Was ist los?“ fragte Jean ein wenig erschrocken.
„Brennt es denn?“
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