Der versunkene Wald
Aufenthalt in Courtils Gelegenheit bot, etwas Neues kennenzulernen, dann war er doch nicht ganz umsonst gewesen. Aber das wenige, was der Nebel zu sehen erlaubte, schien nicht viel anders als das, was sie auf dem anderen Ufer des Couesnon kannten. Die Straße lief an flachem Gelände entlang. Es waren Polder, dem Meer wieder abgewonnenes Land. In Cherrueix, einem merkwürdigen Dorf, umsäumten die kleinen Gehöfte in langer Reihe einen alten Deich. Michel hatte Lust, noch bis Cancale vorzustoßen, aber Punkt Eins und Punkt Zwei erklärten, daß sie genug hätten. So kehrten sie um und fuhren den Weg zurück, den sie gekommen waren. In großen Abständen erscholl noch ein „Urra-a-uh!“, um nichts zu versäumen. Aber sie hofften schon nicht mehr auf Antwort.
Nach einer letzten Nacht im Lager von Courtils packten sie das Zelt zusammen. Das war nun also das Ferien-Ende. Als das Gepäck auf die Räder geschnallt war, sagte Michel:
„Wer zwingt uns eigentlich, vor heute abend zu Hause zu sein? Wir könnten ganz gut noch einmal zum ,Mont‘ fahren …
Die Zwillinge hatten nichts dagegen. Vielleicht hielt die Hauptmacht des Stammes sich wirklich dort auf. Es war alles möglich. Der Mont Saint-Michel war der einzige Ort im ganzen Umkreis, wo sie in diesen zwei Tagen des Suchens nicht nach den Freunden geforscht hatten.
Die Bewohner von Saint-Michel und die Frühaufsteher unter den Touristen fuhren an diesem Morgen mehr als einmal erschrocken und ärgerlich zusammen. Unvermutet erschollen überall immer wieder wilde Schreie, bei denen die kleinen Kinder sich ängstlich verkrochen. Es gab Leute, die schon die Polizei alarmieren wollten.
Urplötzlich war in Michel Grandier, Punkt Eins und Punkt Zwei die Hoffnung, ja die Gewißheit erwacht, daß sie hier am ,Mont‘ endlich die Spur der vermißten Gefährten finden würden. Sie überschütteten Gastwirte und Andenkenverkäufer mit Fragen: Hatten sie eine Gruppe von vier oder fünf Jungen gesehen? Man hatte viele Gruppen gesehen, täglich kam eine Unzahl von Menschen hierher, und auf jedermann konnte man nicht achten. Michel gab eine Schilderung mit allen Einzelheiten. Manche hörten nicht einmal richtig zu, weil ein Kunde bedient werden wollte. Andere schüttelten den Kopf: Nein, bestimmt nicht, sie konnten sich an nichts erinnern.
In ihrer Verzweiflung versuchten Punkt Eins und Punkt Zwei ein letztes.
„Entschuldigen Sie, haben Sie unsere Freunde nicht schreien hören? So —“
Der Händler prallte zurück, als der Kriegsruf der Meerkatzen ihm mitten ins Gesicht gebrüllt wurde, und überzeugt, daß die Jungen ihn zum besten haben wollten, warf er sie voller Empörung hinaus.
Um zehn Uhr standen sie niedergeschlagen wieder am Fuße der Abtei. Sie hatten alles durchstöbert, selbst die alten Festungswälle und das Eichenwäldchen, in dem die Meerkatzen allenfalls ihre Zelte hätten aufschlagen können.
Als sie am Fahrrad-Parkplatz ihre Räder wieder in Empfang nehmen wollten, kam Michel auf den Gedanken, auch noch den Parkwächter zu befragen. Der Mann ließ ihn kaum aussprechen. Er gab den Jungen ein Zeichen, ihm zu folgen, und wies auf einen Motorroller, ein Fahrrad mit Hilfsmotor und ein weiteres Rad, die hinter einem Mauervorsprung abgestellt waren.
„Raymonds Moped!“ rief Punkt Eins fassungslos.
„Und die ,Nähmaschine‘ von Pierre!“ schrie Punkt Zwei.
„Aber wem kann das Damenrad gehören?“ fragte Michel verwundert.
Sie beugten sich hinunter und lasen auf einem Schildchen den Namen Suzanne Grellet. Hatte André Vieljeux sich das Rad seiner Kusine geborgt? Und wo war das Rad von Jean Ternet?
Aber es tauchten in diesem Augenblick sehr viel ernstere Fragen auf. Kaum hatten sie eine Spur von Raymond und den Kameraden gefunden, löste sich bereits alles wieder in Nichts auf. Die Fahrzeuge standen nach Auskunft des Wächters seit Montag hier. Da niemand sie abholte, wollte er sie jetzt der Gendarmerie übergeben. Was konnte mit den Meerkatzen geschehen sein? Blitzartig kam den drei Jungen zum Bewußtsein: Ihren Freunden mußte ein Unglück zugestoßen sein!
Punkt Eins dachte an den Treibsand, der an vielen Stellen rund um den Mont Saint-Michel liegt. Er hatte bei Victor Hugo die Beschreibung vom Todeskampf des Wanderers gelesen, der langsam im Treibsand versinkt, bis zuletzt nur noch ein Haarbüschel zu sehen ist, das schließlich auch verschwindet. Armer Raymond! Armer Pierre! Und Jacques und André Vieljeux …
„Wir müssen sofort mit
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