Der versunkene Wald
Sachen miteingepackt“, sagte Frau Grellet. „Wenn sie hierbleiben will, wirst du für die paar Tage schon etwas zum Anziehen für sie finden.“
„Natürlich, sie braucht ja nicht viel.“
„Kommt ihr zu Weihnachten wieder?“ fragte Herr Vieljeux.
„Schon möglich! Wenn das Wetter nicht zu schlecht ist. Es regnet ein bißchen viel in eurer Normandie.“
„Also dann — auf Wiedersehen!“
„Auf Wiedersehen!“
Der Wagen rollte knirschend über den Kies und zum Tor hinaus. Auf der Straße gab Herr Grellet kräftig Gas. Er überlegte die Folgen der plötzlichen Erkrankung seines Teilhabers. Frau Grellet ihrerseits dachte an ihre Schwester und fragte sich, ob sie nicht ein bißchen unfreundlich gewesen war. Arme Hélène! Sie freute sich jeden Sommer so sehr, sie alle unter ihrem Dach zu beherbergen …
Es war Nacht geworden. Plötzlich sah Frau Grellet im Licht der Scheinwerfer ein Schild, das die Einfahrt in die Ortschaft Saint-Hilaire-du-Harcouet ankündigte. Sie fuhr jäh aus ihren Gedanken auf.
„Georges! Das ist ja die Straße nach Paris! Du hast Suzanne vergessen!“
„Wenn schon!“ antwortete Herr Grellet gelassen. „Wir sind zwanzig Kilometer hinter Avranches, ich kehre jetzt nicht noch einmal um. Es ist ganz gut so. Warum sollen wir dem Kind die Ferienzeit verkürzen? Außerdem wird deine Schwester sich bestimmt freuen …“
Frau Grellet gab sich zufrieden. Im Grunde hatte ihr Mann recht. Sie war auch gerührt, daß er an ihre Schwester dachte. Sie suchte einen bequemen Platz, wo sie ihren Kopf anlehnen konnte, und schlummerte allmählich ein.
In Avranches sagte Frau Vieljeux seufzend zu ihrem Mann: „Elf Uhr! Ich glaube, wir können schlafen gehen. Suzanne sehen wir in diesem Jahr nicht wieder. Sie ist doch lieber mit ihren Eltern zurückgefahren …“
Tief unter dem Mont Saint-Michel drehte Suzanne Grellet den schmerzenden Kopf auf dem Brotbeutel, der ihr als Kopfkissen diente, hin und her. Sie öffnete die Lider, aber ihr Blick begegnete nur drohender Finsternis. Bevor sie wieder einschlief, sagte sie sich noch einmal alles vor, was sie den Gefährten versichert hatte, und versuchte, sich damit selber zu trösten: Die Eltern würden über ihr Ausbleiben besorgt sein; Lefevres und Faugeras’ wußten vielleicht jetzt schon, daß ein Unglück geschehen sein müßte. Alle Eltern würden sich zusammentun, um sie zu suchen. Und schließlich mußten sie ihre Kinder ja finden …
*
Die Brüder Petit, Maurice und Jacques, waren zu einer Bootsfahrt eingeladen. Sie hatten es nicht übers Herz gebracht abzulehnen, und der Nachmittag war schon weit vorgeschritten, als sie wieder nach Hause kamen. Die Uhr zeigte sechs, als sie glücklich im Lager von Courtils anlangten, auf schwere Vorwürfe von seiten des Stammes gefaßt.
Maurice und Jacques waren Zwillinge, dreizehn Jahre alt. Sie glichen sich aufs Haar, so daß niemand sie voneinander unterscheiden konnte, wenn ihre Mutter sich den Spaß machte, sie in gleiche Anzüge zu stecken. Eingeweihte wußten freilich, daß Maurice hinter dem linken Ohr am Hals ein kleines braunes Mal hatte, während bei Jacques das gleiche Zeichen in zwei dicht beisammenliegende Leberflecke geteilt war. Ihre nähere Umgebung hatte sich angewöhnt, die Jungen daran zu erkennen; ja, sie hatten darüber geradezu ihre Vornamen verloren. In der Familie wie in der Schule hießen sie ,Punkt Eins‘ und ,Punkt Zwei‘. Auch sie selber riefen sich gegenseitig nie anders. Das ging soweit, daß, wenn sie zu einer Tür hereinkamen oder sonst gezwungen waren, hintereinanderzugehen, Punkt Eins ganz selbstverständlich den Vortritt hatte und Punkt Zwei ihm folgte.
Punkt Eins lehnte, völlig außer Atem, sein Rad gegen die Hecke, betrat den Lagerplatz und schrie:
„Urra-a-uh!“
„Urra-a-uh!“ wiederholte wie ein Echo Punkt Zwei dicht hinter seinem Bruder.
Der Platz war leer. Keine Spur von einer Meerkatze war zu erblicken.
Die Zwillinge wollten sich gerade am Strand umsehen, als hinter ihnen ein Ruf erscholl:
„Urra-a-uh!“
Es war Michel Grandier, der ebenfalls zum großen Treffen zu spät kam. Er wohnte in Brehal, einem Badeort nördlich von Granville, und hatte von allen den weitesten Weg zum Lager. Aber auch ohne besondere Gründe war Michel niemals pünktlich zur Stelle. Seine Freunde kannten ihn so gut, daß sie das von vornherein in Rechnung stellten, wenn sie sich mit ihm verabredeten. Alle mochten ihn trotz seiner Bummligkeit gern, weil der
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