Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
gleichmäßig zu atmen.
Ohne die Sonnenbrille auf ihrer Nase hätte sie die Blicke der Polizisten nicht ertragen. Mit Valeries Notruf vor einem Jahr hatte es begonnen. Sanitäter, Abtransport, ein Kommissar. Das stumme Nicken seines Kollegen, während er auf der Wache ihre Aussage aufnahm. Das Stirnrunzeln beim Durchblättern der Akte. Die versteckten Andeutungen: Sie konnte froh sein. Vermutlich habe er nichts gespürt.
Jef war bei der Polizei kein Unbekannter gewesen. Sein Vorstrafenregister umfasste so gut wie alles, was einem gescheiterten Rockmusiker zuzutrauen war. Führen eines Kraftfahrzeugs unter Alkoholeinfluss, unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, Drogenbesitz, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Diebstahl, Hehlerei, Körperverletzung. Wenn so einer starb, rief das nur ein Schulterzucken hervor.
Als ausschlaggebend hatten sich mehrere Umstände erwiesen. Zum einen profitierte Valerie nicht von Jefs Tod. Außer einem Stapel selbst produzierter CDs hatte er nur Schulden hinterlassen. Hinzu kam, dass es keinerlei Spuren von Fremdeinwirkung gab. Jef war an seinem Erbrochenen erstickt. So etwas kam vor, wenn jemand Unmengen von Alkohol und Drogen zu sich nahm. Außerdem hatte Gunter zu Valeries Gunsten ausgesagt. Er war mit Jef noch bis kurz vor dessen Tod um die Häuser gezogen und hatte den Eindruck bestätigt, der sich auf den ersten Blick aufdrängte: Jef sei am Ende gewesen. Es sei nur eine Frage der Zeit gewesen. Er habe sich sein eigenes Grab geschaufelt.
Sie hatten es geahnt. Jedes Mal, wenn sie auf der Wache gewesen war, hatten die Polizisten ihr wortlos zu verstehen gegeben, dass sie wussten, was sich wirklich zugetragen hatte. Es kam ihr so vor, als hätten sie nur der Form halber ermittelt. Weil sie das Richtige getan hatte. Und es keine Beweise dafür gab.
Vielleicht wäre sie zusammengebrochen, wenn Woytas sie richtig in die Mangel genommen hätte. Der Kommissar hätte sie zum Reden bringen können. Seine Nachforschungen hatten jedoch nie einen gewissen Punkt überschritten. Einen Punkt, an dem es für ihn ein Leichtes gewesen wäre, sie mit Fangfragen in Bedrängnis zu bringen. Was für ein Mensch Jef gewesen war. Ob sie Probleme hatten. Was er tat, wenn er nachts nach Hause kam. Wie er sich in der fraglichen Nacht verhalten hatte. Warum Valerie das wusste, angeblich hatte sie doch tief und fest geschlafen.
Stattdessen war Woytas stets bei einer unverfänglichen Routine geblieben. Ein einziges Mal hatte er anklingen lassen, dass die Polizei ihr in jeder Lage geholfen hätte. Darauf wusste sie immer noch keine Entgegnung.
Der Mann von der Wohnung unter ihr hatte sie einmal gefragt, ob alles in Ordnung war. Lukas, oder so ähnlich, seit sie im Callcenter arbeitete, merkte sie sich keine Namen mehr, es gab zu viele davon. Damals hatte Jef noch gelebt. Valerie hatte keine Reaktion gezeigt. Dazu war sie nicht in der Lage gewesen. Wie hätte sie einem Unbekannten zwischen Tür und Angel mitteilen können, dass manche blauen Flecke nicht mehr heilten, sondern ein gelbliches Serum absonderten? Dass Jef sie ins Badezimmer einsperrte, wenn er Bier und Zigaretten kaufen ging? Dass er sie zu einer festgesetzten Zeit von der U-Bahn abholte, damit sie nach der Arbeit nichts ohne sein Beisein tun konnte? Sollte sie sagen, dass sie in solchen Momenten an ihren gemeinsamen Trip durch Nordamerika gedacht hatte, als sie noch jung und voller Pläne gewesen waren? Dass sie von diesen Erinnerungen zehrte wie eine Verhungernde von einem längst abgetragenen Menü? Dies alles überstieg, was sie mit Worten auszudrücken vermochte. Sie hatte ihren Mund gehalten und Jef vertraut. Sie hatten einander geschworen zusammenzuhalten, komme, was wolle. Es hatte sich als einseitiges Versprechen erwiesen, aber sie konnte ihn weder verraten noch verlassen. Nicht, solange er lebte.
Mit einem Seufzer ließ sich Valerie in dem U-Bahn-Wagen nieder. Die Rushhour war vorbei. Sie hatte jede Menge Platz, streckte die Beine aus, damit es ihr nicht eng wurde um die Brust.
Werbeflächen huschten vorüber. All diese Aufforderungen im Schlund der Erde. Sei klug! Sei stark! Sei, wie du bist! Wer fühlte sich da nicht angesprochen?
Sie schämte sich. Der Anblick, den sie Sheila geboten haben musste. Ihre Tochter wusste besser über sie Bescheid, als ihr lieb war. Sheila hatte ihr oft genug vorgehalten, wie schwach sie war. Das Mädchen war schon immer ungehorsam gewesen, auf eine störrische, naive Art. Das hatte sie bewahrt vor den
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