Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
Macht.«
»Und indem er es uns mitteilt, fühlt er sich bedeutsam.« Sie rollte mit ihrem Sessel ein Stück zurück und stemmte einen Stiefel gegen die Schreibtischkante. »Warum gehst du eigentlich davon aus, dass es ein Mann ist? Meinst du, Frauen lesen keinen Schiller?«
»Höchstens, um es einem Mann in die Schuhe zu schieben«, erwiderte Raupach. Er liebte es, Heides Gefühl für Gleichberechtigung zu kitzeln. Bevor sie in Rage geriet, setzte er hinzu: »Du hast Recht, wir müssen auch diese Möglichkeit in Betracht ziehen.«
»Eine extrem unwahrscheinliche Möglichkeit«, räumte sie ein und fragte sich, ob er sie noch immer für eine unverbesserliche Emanze hielt. Sollte sie ihm mal wieder ein paar Knöpfe annähen, damit er seine Meinung revidierte? Er kümmerte sich zwar um seine Wäsche, aber Handarbeiten waren nicht sein Fall. »Manchmal halten einen Prinzipien nur unnötig auf.«
»Solange sie einen nicht blind machen.«
Von ihr aus konnte er gern das letzte Wort haben. Sie dachte an Potenzanwandlungen und kam auf die »Himmelskraft« in dem Gedicht zurück. Die Götter hatten den Menschen das Feuer vorenthalten. Prometheus lehnte sich dagegen auf und brachte es den Menschen heimlich. Prometheus war eine Erlösergestalt. Der Verfasser des Briefes schien sich auch für jemanden zu halten, der über mehr Wissen und Fähigkeiten verfügte als alle anderen. Herrschaftswissen. Er brüstete sich damit, wollte wahrgenommen werden, zumindest klang das durch.
»Warum sind die Leute so versessen darauf, in der Öffentlichkeit zu stehen?« Heide schüttelte den Kopf. »Kannst du mir das verraten? Warum sind sie nicht zufrieden mit dem, was sie sind?«
»Wem reicht das schon?«, fragte Raupach. »Abgesehen davon gibt es Leute, die überhaupt nicht wissen, wer oder was sie sind.«
»Jugendliche zum Beispiel. Brandstifter sind im Durchschnitt relativ jung.«
»Oder Menschen mit psychischen Problemen.« Raupach fühlte sich leer, weil er so viel geredet hatte. Das tat er ungern. Er wollte Heide keine Vorträge halten, niemandem, wie er sich vorgenommen hatte. Worte, Argumente, kluge Erklärungen, all dies kam ihm seit einiger Zeit zunehmend überflüssig vor. Es bereitete ihm ein gewisses Vergnügen, sich mit einem aktuellen Fall zu beschäftigen, das konnte er nicht leugnen. Aber es führte zu nichts. Was für ein gefährlicher Zustand: zu verstehen glauben.
»Vermutlich fühlt er sich zurückgesetzt, vom Leben benachteiligt.« Heide dachte an das, was sie sich im Laufe der Jahre über Täterpsychologie angeeignet und aus eigener Anschauung zusammengereimt hatte. »Ein Mann mit Bildung. Er kann mit anderen Menschen nicht in Kontakt treten, zumindest nicht auf herkömmliche Weise. Aus seiner Sicht interessiert sich niemand dafür, dass ihm ein Unrecht widerfahren ist. Stattdessen wird er ignoriert, abgelehnt, auf Distanz gehalten. Zuerst gibt er sich selber die Schuld für seine Niederlage, empfindet sich als minderwertig, inakzeptabel. Aus dieser Situation kommt er nur heraus, indem er das Gefühl seines Versagens nach außen richtet. Die anderen sind schuld, alle wollen ihm übel. Seine Selbstachtung wächst wieder. Und da er recht intelligent ist, steigert sich das zu der Überzeugung, allen anderen überlegen zu sein.«
»Ich hoffe, ich störe nicht.« Woytas war an Heides Schreibtisch herangetreten. »Was ist das hier? Konfrontationstherapie? Machen Sie Fortschritte?«
Heide wurde klar, dass man einen Teil ihrer Analyse auch auf Raupach beziehen konnte. Sie biss sich auf die Lippe und setzte sich gerade hin. Woytas schaffte es immer wieder, sie in Verlegenheit zu bringen. Der Teufel sollte ihn holen, falls in der Hölle der Selbstgerechten noch ein Platz frei war.
»Es geht mir schon viel besser«, entgegnete Raupach. »Ich lerne, mich selbst zu akzeptieren. Das ist eine interessante Erfahrung.«
»Übertreiben Sie es nicht. Wenn wir uns selbst uneingeschränkt achten, hören wir auf, uns in Frage zu stellen. Lassen Sie den Zweifel zu.« Woytas deutete ein Lächeln an. Dann nahm er sich den Brief vor.
Raupach hatte es gelegentlich versucht, aber er konnte seinem Nachfolger beim besten Willen nicht böse sein. Woytas hatte sich weder um den Posten gerissen noch sich dagegen gewehrt. Er hatte die Gelegenheit einfach ergriffen, wie es von einem Polizisten zu erwarten war, der seine Fähigkeiten richtig einzuschätzen wusste und eine gesunde Portion Ehrgeiz besaß. Woytas war gut, seine Arbeitsweise
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