Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
glücklich gewirkt, nachdem sie langsam wieder ansprechbar geworden war und ihre Tochter erkannt hatte. Das hatte den Schock aufgewogen.
Sheila hatte ihrer Mutter eine heiße Tütensuppe gemacht und ihr ins Bett geholfen. Was danach passiert war, als sie wieder auf die Straße hinuntergegangen war und zur verabredeten Zeit am Baudriplatz gestanden hatte, war ihr nur nebulös in Erinnerung. Es gehörte zu einem Teil von ihr, den sie nicht wahrnahm. Sie wollte sich nicht daran erinnern, an welchen Stellen der Tourbus auf sie gewartet hatte. Irgendwann hatte sie das für sich so beschlossen. Was nicht in ihrem Kopf war, konnte auch nicht ihr Herz berühren.
Seit gestern hatte sich das jedoch geändert. Ihr Kopf füllte sich, und die Nebel begannen sich zu lichten.
Das Archiv erstreckte sich über die gesamte Grundfläche des Präsidiums. Auf dem Übersichtsplan an der Pforte war es nicht eingezeichnet. Als existierte es gar nicht, dachte Raupach zum wiederholten Mal, während er den endlosen Mittelgang entlangschritt. Zahlreiche Seitengänge zweigten im rechten Winkel ab. Schwere Schiebetüren unterteilten die einzelnen Sektionen. Sie waren mit Kurbeln verschließbar, die aussahen wie das Steuerrad an Bord eines Schiffes. Die Tür des Büros, das er mit Photini teilte, stand offen.
Sie arbeitete am Computer und war noch etwas schläfrig, weil sie ihrer Cousine Rula bis in die Nacht hinein beim Verpacken von Olivenölkanistern geholfen hatte. Die Familie verkaufte extra natives Speiseöl und Kalamata-Oliven im Direktvertrieb. Da Weihnachten vor der Tür stand, waren jede Menge Bestellungen hereingekommen. Photini kümmerte sich um die Auslieferung. Mit der Post führte sie erbitterte Auseinandersetzungen um das zulässige Höchstgewicht der Paketsendungen, da die Kanister etwas zu schwer für einen günstigen Tarif waren. Meistens gewann sie.
Geistesabwesend hob sie die Hand. Der Bildschirm warf einen fahlen Lichtschein auf ihr Gesicht. Das ließ sie noch strenger aussehen, als sie ohnehin schon wirkte. Sie hatte diesen Zug um die Lippen, den man bekommt, wenn man zu lange und zu intensiv an etwas festhält. Photini war hart zu sich selbst, fand Raupach, mit einer Leidenschaft, die ihm bedenklich erschien. Wer allzu verbissen die Kontrolle über sich behalten wollte, erreichte damit oft das Gegenteil.
Er befestigte die Kopie des Briefs an der Pinnwand und hängte seine Jacke über die Stuhllehne. Dann holte er die Akte aus seiner Tasche und verteilte die Fotografien auf dem Schreibtisch. Seine Wohnung sauber zu halten war eine Sache. Aber er konnte sich nicht dazu durchringen, seinen Arbeitsplatz am Ende jeden Arbeitstages aufzuräumen, wie Photini es machte, die ihm direkt gegenübersaß. Unzählige Notizen, Memos, Aktenauszüge und aufgeschlagene Fachbücher lagen herum. Mit jedem Schriftstück verband er bestimmte Gedanken. Wenn er alles säuberlich einordnete und abheftete, befürchtete er, dass alle Gedanken dadurch in der Ablage verschwänden und unwiderruflich verloren gingen. Er hatte es bereits ausprobiert und einen ganzen Tag damit verbracht, das ursprüngliche Chaos wiederherzustellen. »Fuzzy logic«, hatte er Photini belehrt. Er wusste nicht genau, was das bedeutete, den Ausdruck hatte er bei Heide aufgeschnappt. Er hörte sich plausibel und fortschrittlich an. Man muss manchen Entdeckungen ihr Eigenleben lassen und daran seine Instinkte schärfen, überlegte er. Eine Spur zu finden ist nichts. Schwierig ist es, sich das Gefundene anzuverwandeln.
Als er gestern vom Eislaufen nach Hause gekommen war, hatte er an das Mädchen gedacht, das den Streit zwischen Photini und diesem Jungen geschlichtet hatte. Ihr Aufzug war für die Jahreszeit viel zu dünn gewesen. Teenager schienen die Witterung absichtlich zu ignorieren. In der größten Kälte liefen sie mit Netzstrümpfen und Minirock herum, als könne ihnen nichts in der Welt etwas anhaben. Und sie trugen dazu Ohrwärmer, wie um sich selbst auf den Arm zu nehmen. Das Mädchen kokettierte mit dieser lasziven Aufmachung. Vermutlich war es nur eine Kostümierung, sie wusste gar nicht, was sie damit bei manchen Männern auslöste. Irgendeine Reaktion hielt sie vermutlich für besser als gar keine. Raupach hatte eine Menge solcher Mädchen gesehen, an Tatorten, die oft nur ein paar Meter von belebten Straßenzügen und Plätzen entfernt waren. Er war froh, dass er keine Tochter hatte.
Auf den Fotos war die Kleidung der Leiche gut zu erkennen. Die Akte
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