Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
enthalten, als gäbe es eine Art Standard-Drohbrief. Wenn man einen Standard setzte, war man geneigt, alles, was darüber hinausging, als Abweichung zu verstehen. So zu denken engte ein.
»Wir haben nicht mehr als die Zeilen und was dazwischen steht«, sagte er. »Zwischen diesen Zeilen steht das, was der Verfasser dem Leser überlässt. Die anderen sollen sich gefälligst anstrengen und herumrätseln, während er sich zurücklehnt und alles aus sicherem Abstand verfolgt.«
»Also noch mal. Du meinst, die Drohung sei leer, weil sie im Vergleich zu dem Gedicht so kurz ist?«
»Ausgehend von diesem Brief: ja. Aber vielleicht ist das nur ein Teil seiner Drohung. Gab es irgendwelche … Brände im Vorfeld?«
»Massenhaft«, gab Heide zurück, froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren. Sie machte sich an ihrem Computer zu schaffen. »Leider deutet nichts auf einen gezielten Anschlag hin. In diesem Jahr hat uns die Feuerwehr nur ein paar Mal eingeschaltet. Im März brannte ein Asylbewerberheim ab. Das würde wohl am ehesten ins Bild passen. Als Ursache des Brandes stellte sich heißes Öl heraus, ein paar Vietnamesen wollten ihr Abendessen frittieren. Dann gab es einen Zimmerbrand in einem Mehrfamilienhaus. Der Mann, der die Mansardenwohnung bewohnte, kam dabei ums Leben. Es war ein Kabelbrand, die Leitungen waren veraltet. Und zu guter Letzt brach im Lagerraum eines Restaurants Feuer aus. Der Wirt hat es selbst gelegt, ein Fall von Versicherungsbetrug.«
Sie klickte die Datei weg und wandte sich ihren Notizen zu. »Ich habe auch bei der Feuerwehr nachgefragt. Die hatten in letzter Zeit nur das Übliche: Dachstuhlbrände, ein Feuer in einer Seniorenwohnanlage, ein Brand in einer Buchhandlung. Alles aufgeklärt, keine Unstimmigkeiten.«
»Du hast deine Hausaufgaben gemacht.« Raupach spielte die Floskel mit einem schiefen Lächeln herunter. Er bewunderte die Geschwindigkeit, mit der Heide diese Informationen eingeholt hatte. Sie trat eine Stunde früher als er zum Dienst an und musste dies alles in dieser kurzen Zeit herausgefunden haben. Bei der Telefonrecherche war sie unschlagbar.
»Wir können noch weiter in die Vergangenheit zurückgehen«, schlug sie vor. »Oder wir weiten den Kreis der Ermittlung aus. Ich kann das LKA hinzuziehen.«
»Das wird vorerst nicht nötig sein«, sagte Raupach.
»Warum?«
»Im Archiv haben wir eine ganze Klassikersammlung. Du kannst dir nicht vorstellen, wer sich alles auf Goethe oder Schiller beruft, um ernst genommen zu werden.«
»In einem Brief an die Polizei?«
»Wenn sie es nicht mit ihren eigenen Worten ausdrücken können, sind sie meistens harmlos. Ein Bildungsschnipsel, mehr ist es nicht. Er will uns zeigen, dass er könnte – wenn er wollte.«
Das leuchtete Heide ein. »Du denkst, er traut sich nicht.«
»Er kann nicht. Er würde gerne, aber er wird es nicht in die Tat umsetzen. Hast du dir das Schriftbild angesehen?«
»Professionell, wie aus einem Buch. Vielleicht hat er einen Laserdrucker benutzt.«
»Dann wäre es gestochen scharf.« Raupach deutete auf eine Zeile, die ihm besonders aufgefallen war. »Siehst du? Die Buchstaben sind an den Rändern ein wenig ausgefranst. Das kommt beim Fotokopieren vor.«
»Lässt sich nicht vermeiden, oder?«
»Je häufiger eine Vorlage kopiert wird, desto unschärfer wird das Schriftbild. Ich denke, er hat das Gedicht von einem Buch abkopiert, es dann auf einen Zettel geklebt und erneut vervielfältigt. Mit dem Zusatz ist er genauso verfahren. Es würde mich nicht wundern, wenn er den auch einem Buch entnommen hat.«
»Warum hat er das Ganze nicht einfach abgetippt? Ein Drucker, selbst ein Tintenstrahler, verrät nicht seinen Benutzer.«
»Möglicherweise misstraut er Computern«, mutmaßte Raupach. »Oder Tastaturen. Bei einer Schreibmaschine kann man im Nachhinein feststellen, ob ein bestimmter Brief darauf geschrieben wurde, jedenfalls bei älteren Modellen, bei denen immer ein paar Typen verbogen sind.«
»Ich schau mir auch alte Filme an.«
»Dieses Kopierverfahren passt viel besser zu unserem Mann. Er bedient sich der Worte anderer. Dadurch weist er die Verantwortung von sich – und beglaubigt zugleich die Bedeutung des Textes. Seht her, soll das heißen: Es steht geschrieben.«
»Also wird es auch geschehen«, ergänzte Heide.
»In seiner Phantasie vielleicht. Die Vorstellung, diese … – wie heißt es bei Schiller? – Himmelskraft zu entfesseln, verleiht ihm ein Gefühl von
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