Der vierte Mörder: Klemens Raupachs erster Fall (German Edition)
Dingen, die Valerie zu feige war zuzugeben.
Um Viertel nach acht ging Sheila in ihre Klasse. Sie behielt ihre Ohrwärmer auf. Keiner lachte. Ihre Mitschüler kannten diese Angewohnheit. Sie hatte eine ganze Reihe verrückter Ticks. Manche galten als trendy und wurden blitzschnell kopiert. Die Ohrwärmer sollten wahrscheinlich provozieren. Sie hatte schon bessere Einfälle gehabt.
Sheila schlurfte zu ihrer Bank und ließ ihre Tasche zu Boden fallen. Vorsichtig nahm sie auf dem Rand der Sitzfläche Platz. Lili begrüßte sie mit einem Grinsen und schob das Arbeitsblatt in die Mitte. Es ging um den Treibhauseffekt, das Lieblingsthema von Andreas Hellwig, ihrem Klassenlehrer. Er unterrichtete Deutsch und Erdkunde mit wechselnder Begeisterung.
Hellwig rief Sheila auf. In welchem Ausmaß die Eisdecke des Polarmeers schmolz. Ob das dazu beitrug, dass der Meeresspiegel anstieg.
Durch die Ohrwärmer verstand sie ihn gut. Sie hielten nur die Kälte ab, der Schall drang problemlos hindurch. Sheila wusste nicht, welches Polarmeer gemeint war, das im Norden oder Süden.
Normalerweise ignorierte Hellwig ihre Launen. Seinen Schülern fiel jeden Tag etwas anderes ein, um ihn und die anderen Lehrer auf die Palme zu bringen. Im Vergleich zu den meisten Dummheiten waren Ohrwärmer ein harmloser Witz. Sie konnten aber auch höhnisch gemeint sein, mutmaßte er. Bei Sheila war er sich nie sicher.
Aus dem Arbeitsblatt wurde sie auf die Schnelle nicht schlau. Sie überlegte. »Wenn ein Eiswürfel in einem Glas Wasser schmilzt«, begann sie, »läuft das Glas nicht über. Das Wasser bleibt gleich viel. Das heißt, der Meeresspiegel steigt nicht an.« Es erschien ihr logisch. Doch so, wie Hellwig die Frage gestellt hatte und wie er jetzt schaute, nahm sie an, dass sie falsch lag. Er hatte sich so angehört, als stände der gesamte Planet bald unter Wasser.
»Im Prinzip hast du Recht«, sagte der Lehrer. »Aber …«
»Vielleicht verdunstet Eis nicht so schnell wie Wasser«, setzte sie rasch hinzu und verfolgte einen neuen Gedanken. »Wenn es also weniger Eis gibt, müsste … mehr Wasser verdunsten. Das heißt, der Meeresspiegel – sinkt!« Obwohl ihr auch das einleuchtete, merkte sie, dass sie sich verfranst hatte. Der Meeresspiegel sollte steigen, verdammt! Sie wusste doch, worauf Hellwig hinauswollte. Ihr fehlte nur ein Fingerzeig, wie sie dorthin kam.
»Eine interessante Theorie.« Er lächelte nachsichtig. »Aber das verdunstete Wasser verschwindet nicht einfach. Es fällt als Regen oder Schnee wieder auf die Erde.«
Lili stupste sie an und deutete mit dem Finger auf das Arbeitsblatt. Da stand etwas von schwindendem Inlandeis, von Gletschern, die ins Meer mündeten, »kalbten«, wie es hieß. Dadurch wurde die Wassermenge in den Ozeanen größer, und der Meerespiegel stieg an. Aber fiel das wirklich ins Gewicht?
Immer dachte Sheila um eine Ecke zu viel. Oder sie verließ sich auf ihren gesunden Menschenverstand. Die vorgestanzten Lösungen, die von ihr erwartet wurden, lagen irgendwo dazwischen. Als sie sich korrigieren wollte, hatte Hellwig die Frage bereits an einen anderen Schüler weitergegeben.
Sheila hörte nicht hin. Hellwig hatte sie vorgeführt. Ihr Vergleich mit den Eiswürfeln stimmte, davon war sie überzeugt, auch wenn er nicht ins Schema passte. Weil sie zu spät gekommen war und ihr die Informationen von dem Arbeitsblatt fehlten, hatte sie die schmelzenden Gletscher nicht berücksichtigt. Aber nach den Gletschern hatte Hellwig gar nicht gefragt. Er hätte anders fragen müssen.
Damit er nicht weiter auf ihr herumhackte, nahm sie die Ohrwärmer ab. Mit einem Schlag verschwand das angenehm wattige Gefühl. Alles, was sie gehört hatte, war in weiter Ferne passiert. Jetzt drangen die Geräusche im Klassenzimmer ungefiltert an sie heran. Es kam ihr viel zu laut vor.
Mit der Handfläche beschirmte sie ihre Augen und tat so, als vertiefe sie sich in das Arbeitsblatt. Dann schloss sie die Augen. Das brachte nicht viel, aber es war besser als nichts. Es half ihr, an die vergangene Nacht zu denken. Der Schock, als sie nach Hause gekommen war und ihre besinnungslose Mutter im Wohnzimmer gefunden hatte, zwischen all den Glasscherben und den Resten von Jefs Gitarre. Er war vorübergegangen, als sie sich davon überzeugt hatte, dass Valerie nichts fehlte. Sheila fand es nicht so schlimm, dass Valerie sich betrunken hatte. Das kam selten vor, sie hatte Verständnis dafür. Dieses Mal hatte Valerie sogar richtig
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