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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Spielberg
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kleine Karawane hat das Intermediate-Zimmer erreicht. Von der Freiheit trennt mich nur noch die erwähnte Rigipswand - und die kleinen Sprengpäckchen, die mit kräftigem Klebeband an dieser Wand befestigt sind. Der Geiselnehmer reicht Renate ein paar Handschellen.
    "Machen Sie Dr. Hoffmann hier am Heizungsrohr fest."
    Was Renate ohne Widerspruch tut, aber auch mit Widerspruch hätte der Blinde das Ergebnis sicher überprüft. Klar, dass es seinen Ansprüchen nicht genügt und er die Handschellen enger stellt. Mit Renates Einstellung hätte ich meine Hände mit ein wenig Zeit und Mühe herausziehen können. Der Blinde lässt den Sabotageversuch unkommentiert, wendet sich an mich.
    "Sie haben zehn Minuten, Dr. Hoffmann. Hier sind Papier und Kugelschreiber. Vielleicht möchten Sie sich von jemandem verabschieden."
    Dann bin ich alleine. Wie lange sind zehn Minuten? Was fängt man mit den letzten zehn Minuten seines Lebens an? Habe ich tatsächlich nur noch zehn Minuten zu leben? Oder bedeuten diese zehn Minuten nur eine Strafe, hätte er mich nicht, wenn das wirklich seine Absicht ist, sofort erschossen? Ich erinnere mich an eine Fernsehdokumentation über die Hinrichtung von Hanns Martin Schleyer durch die RAF. Diese Erinnerung gibt mir keinen Trost, denn man hat auch Hanns Martin Schleyer Zeit für einen Abschiedsbrief gegeben. Seine Leiche wurde am nächsten Tag im Kofferraum eines BMW gefunden. Wenn das wirklich das Ende ist, wem sollte ich einen Abschiedsgruß hinterlassen? Mit dem Tod von Tante Hilde bin ich der letzte der Familie, also von mir keine weisen Lebensratschläge an die Kinder oder ein herziges "Vergiss mich nicht, aber heirate bald wieder" an deren Mutter. Bleibt Celine. Was soll ich ihr schreiben? Dass es mir leid tut, sie neulich als Tierschutzterroristin bezeichnet zu haben?
    Die Stille fällt mir auf. Gerade auf einer Intensivstation geht es in der Regel nicht so still zu, läuft irgendwo eine Wiederbelebung, werden Anordnungen durch den Raum gerufen, neue Patienten versorgt. Aber beide Intermediate-Zimmer sind leer, und von vorne höre ich nur ganz leise die regelmäßige Arbeit der Beatmungsmaschine an Bett vier. Ewig piepende Monitore gibt es nur noch in Fernsehserien.
    Oder habe ich der Welt etwas mitzuteilen, eine profunde Essenz meines Mediziner- und sonstigen Lebens? Habe ich nicht. Ich habe nur furchtbar Angst.
    Ich rufe mich zur Ordnung: Was versäume ich denn, wenn heute mein Leben zu Ende ist? Was würde ich unbedingt noch machen wollen, hätte ich nicht nur zehn Minuten (inzwischen dürften es nur noch sieben sein), sondern zum Beispiel zehn Wochen? Mehr von der Welt sehen? Das interessiert mich nicht besonders. Ich war eine Menge unterwegs, und von Mal zu Mal sind die Orte mit dem früher so exotischen Nimbus einander ähnlicher geworden, hat die internationale Architektenverschwörung ihre Duftmarken hinterlassen, sehe ich den gleichen Burger King, die gleiche Filiale der Deutschen Bank. Ich hätte immer gerne Klavier spielen gelernt, aber in zehn Wochen wäre das sicher nicht zu schaffen.
    Ich bräuchte, bleibt am Ende meiner Überlegungen, vielleicht einen Tag, oder einen halben. Was sich für mich als wirklich wichtig herausschält, wäre die Gelegenheit, mich bei ein paar Leuten zu entschuldigen, unbeabsichtigte oder aus dem Ärger heraus zugefügte Verletzungen zurückzunehmen. Da gibt es neben Celine noch ein paar Leute, die ich irgendwann bitter gekränkt und nie um Entschuldigung gebeten habe.
    Noch fünf Minuten, schätze ich. Und da fällt mir auf, wie unsinnig diese Geschichte ist. Warum soll der Blinde mich erschießen? Wegen einer Million Euro, die er so gut wie in der Tasche hat? Das würde seine Lage doch unnötig verschlechtern. Das ergibt keinen Sinn. Also wird er mich nicht erschießen. Oder geht es um etwas ganz anderes, soll meine Leiche eine noch nicht ausgesprochene, ungleich massivere Forderung unterstreichen? Auch nicht wirklich sinnvoll, wenigstens im Timing. Aber vielleicht ist genau das das Problem: Unser Geiselnehmer ist schlicht verrückt, seine Überlegungen sind eben nicht sinnvoll.
    Noch vier Minuten. Die Rigipswand wäre schnell durchgetreten, die Sprengstoffpäckchen sind vielleicht nur Attrappen. Und wenn nicht? Dann gibt es sicher eine kleine Plakette für "unseren unvergessenen Dr. Hoffmann" an irgendeiner Stelle, wo sie nicht stört. Natürlich komme ich jetzt erst recht nicht auf den Trick, wie Handschellen ohne Schlüssel problemlos geöffnet

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