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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Spielberg
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sind erleichtert. Es geht nicht um Palästina, die Abschaffung der Todesstrafe oder das Ozonloch. Einfach nur eine Million unmarkierte Euro. Ich rechne nach und finde schnell heraus, dass eine Million Euro bei drei Patienten, zwei Schwestern und zwei Ärzten einem Wert von rund hundertvierzigtausend Euro pro Nase entspricht. Bin ich wirklich nur hundertvierzigtausend Euro wert? Immerhin, vor ein paar Jahren hätte der Geiselnehmer eine Million D-Mark verlangt. So hat der Euro nicht nur den Bierpreis in der Eckkneipe, sondern sogar den Wert meines Lebens verdoppelt! Und außerdem, auch das eine gewisse Beruhigung, dürften eine Million Euro im Gegensatz zum Weltfrieden ohne größere Probleme bis morgen früh zu beschaffen sein. Wobei der Blinde sich hoffentlich schon ein paar Gedanken dazu gemacht hat, wie er dann mit den unmarkierten Scheinchen hier hinausmarschieren will. Nicht auszuschließen, dass dabei wir Geiseln eine Rolle spielen sollen.
    Käthe und Renate fragen, ob sie abwaschen dürfen. Das solle Käthe allein machen, meint der Blinde. Also verschwindet Käthe in der Teeküche, und wir stehen wieder sinnlos in der Gegend herum. Was den Blinden stört.
    "Wollen Sie sich nicht um Ihre Patienten kümmern?"
    Wie stellt der sich das Leben auf der Intensivstation vor? Dass die Ärzte mit Dienstantritt ihre Inspektion am ersten Bett beginnen, am letzten Bett beenden und dann die Tour wieder von vorne beginnen, eine Art ärztliche Dauerprozession? Wozu, meint er wohl, gibt es die ganze Überwachungstechnik mit präzise eingestellten Alarmgrenzen? Seine Sorge um die Patienten rührt und nervt mich zugleich.
    "Vielleicht haben Sie zu viele Arztserien im Fernsehen gesehen, oder die falschen", sage ich, ohne daran zu denken, dass ich mit einem Blinden spreche. "Die Sache läuft hier so: Es wird ein Behandlungskonzept festgelegt für jeden Patienten, und dann wird überwacht, ob das Konzept wirklich läuft und ob es funktioniert. Auf einer Intensivstation geht es in erster Linie um die lebenswichtigen Funktionen. Um den Kreislauf, eine regelmäßige Herztätigkeit, ob die Nieren vernünftig arbeiten, solche Sachen. Und die werden zuverlässiger durch die Geräte als durch uns überwacht."
    Es ist klar, was nun vom Blinden kommt: unmenschliche Apparatemedizin, Patienten werden als Objekte behandelt, auf ihre körperlichen Funktionen reduziert. Was Blödsinn ist, aber ich habe weder die Lust, noch sehe ich die Notwendigkeit, uns ausgerechnet gegenüber einem Geiselnehmer zu rechtfertigen, ihm von der Hingabe zu erzählen, mit der Schwestern und Pfleger diese armen Menschen immer wieder lagern, waschen, Haut, Hintern und Mundhöhle pflegen und ihnen selbst im Koma Mut oder Trost zusprechen. Ich bleibe bei dem, was auf der Hand liegt.
    "Sehen Sie unsere Patienten an. In Bett eins, Herr Sauerbier, wird sich melden, wenn er wieder Brustschmerzen bekommt. Und bis dahin kontrollieren teure Apparate fortlaufend, dass sein Herz nicht plötzlich in eine tödliche Rhythmusstörung übergeht und der Blutdruck in vernünftigen Grenzen bleibt. Zusätzlich machen wir alle Stunde ein komplettes EKG und einen Blut-Schnelltest. Finden Sie das menschenverachtend? Oder in Bett zwei: ähnliche Dauerüberwachung. Und mit einer aufgeblasenen Plastikwurst in der Speiseröhre wären auch Sie dankbar, wenn man sie weitgehend in Frieden und am besten schlafen lässt."
    Ich schaue den Blinden an, kann keine Reaktion entdecken und fahre fort.
    "Bei Bett vier allerdings muss ich Ihnen Recht geben. Hier scheint mir tatsächlich der Sinn der Intensivmedizin fraglich."
    "Was meinen Sie damit?"
    "Damit meine ich, dass gelegentlich Patienten zu lange oder sinnlos mit den Segnungen der Intensivmedizin behandelt werden. Diesen Vorwurf können Sie uns wahrscheinlich machen."
    "Sie würden also die Maschinen abstellen?"
    "Ja."
    Eine Weile sagt unser Geiselnehmer nichts, scheint das Interesse am Thema verloren zu haben. Dann aber wendet er sich ganz zu mir und hat plötzlich wieder die Pistole in der Hand. Gerichtet auf mich. Sein Gesicht ist kalkweiß, seine Stimme bebt.
    "Wie fühlen Sie sich, Herr Doktor, als Herr über Leben und Tod? Als der, der festlegen darf, wer noch eine Chance bekommt und wer abkratzen darf? Ist das nicht ein tolles Machtgefühl?"
    Ist es überhaupt nicht, ganz im Gegenteil, möchte ich ihm wahrheitsgemäß antworten. Aber er gibt mir dazu keine Gelegenheit, sondern poltert weiter.
    "Wer gibt Ihnen überhaupt das Recht dazu, über

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