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Der Vierte Tag

Der Vierte Tag

Titel: Der Vierte Tag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Spielberg
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Richtig, er wiederholt sich, schreit Käthe an.
    "Wo ist mein Hund? Sie haben ihn hinausgelassen! Das war ein großer Fehler von Ihnen, Schwester Käthe!"
    "Schreien Sie mich nicht an!" Das gefällt mir, auch durch meine Milchglasscheibe, Käthe ist eine mutige Frau. "Ich habe Ihren Hund nicht hinausgelassen. Außerdem, wenn er wirklich eben durch die Tür geschlüpft wäre, hätte ich das doch sehen müssen! Habe ich aber nicht."
    Dem Geiselnehmer scheint es tatsächlich peinlich, eine ältere Frau angeschrieen zu haben, sofort hört er damit auf. Bis auf Käthe und mich beteiligen sich jetzt alle an der Suche nach dem verdammten Hund, was mir unverständlich ist. Ist doch nicht unser Problem!
    Trotzdem bin ich es, der den Hund findet: Kardiologen haben gute Ohren, können den dritten Herzton auch bei Kindergeschrei oder eimerklappernden Putzkolonnen heraushören. Ich folge dem Geräusch, doch bald genügt mein normaler Geruchssinn, um den Ursprungsort eines erneuten zufriedenen Furzes zu lokalisieren.
    Der Hund liegt friedlich schnarchend unter Bett vier. Vielleicht angelockt vom gleichmäßigen Takt der Beatmungsmaschine, dem er seinen Schnarchrhythmus vollkommen angepasst hat. Nachdem sich sein Herrchen beruhigt hat, kommt für uns der bisher unangenehmste Teil der Geiselhaft, der unangenehmste wenigstens nach meiner Fast-Exekution. Die Natur fordert ihr Recht, wie man so sagt, oder, weniger geziert ausgedrückt, unser Geiselnehmer muss aufs Klo.
    Damit ist er gezwungen, zwei Aktivitäten unter einen Hut zu bringen: aufs Klo zu gehen und seine Geiseln im Auge zu behalten. Damit wir nicht abhauen oder ihn im Klo einschließen, während er seinem Geschäft nachgeht. Ich denke, er wird uns wieder anketten, tut er aber nicht. Ist sein Geschäft zu dringlich geworden?
    Wir dürfen uns alle in einer Reihe aufstellen, den Rücken, Gott sei Dank, zur Toilette, aber die Tür bleibt offen. Leider sind wir weder taub noch ist unser Geruchssinn gestört. Was hat der Kerl bloß gestern oder heute Morgen zu sich genommen? Trotz meines anhaltenden Zombie-Status wird mir übel. Ich müsste mich setzen, geht aber nicht.
    "Was ist denn das für ein bestialischer Gestank! Ist ja nicht auszuhalten!" beschwert sich Herr Sauerbier aus Bett eins.
    Seine erste vernünftige Äußerung, wie ich finde. Sie bleibt aber ohne Kommentar, außer dem, dass endlich die Spülung geht. Als Zeitungsleser malt man sich die verschiedensten Gefahren bei einer Geiselnahme aus. Aber es ist nicht nur die permanente Bedrohung von Leib und Leben, die das Dasein als Geisel so wenig erstrebenswert macht.
    Der ehemals Blinde stellt den Ton am Fernseher wieder an und klickt durch die Kanäle. Man hat ein wenig das Interesse an uns verloren, die Nachrichtensender haben wieder nach Indien oder Pakistan geschaltet. Mehr Action dort, mehr Farbe, mehr Leichen. Kann man verstehen. Wir sehen eine Zeitlang schweigend zu. In den Zwanzig-Uhr-Nachrichten allerdings wird wieder direkt von der Humana-Klinik berichtet. Mit vielen Worten und der immer gleichen Kamerafahrt über die gelangweilt herumstehenden Polizisten bemüht man sich zu kaschieren, dass es nichts zu berichten gibt. Der Tagesschau gelingt ein Interview mit unserem Chirurgen Weißkopf.
    "Natürlich gilt unsere Sorge auch den gefangenen Schwestern und Ärzten auf der Intensivstation. Man mag sich aber kaum vorstellen, was die schwerkranken Patienten als Geiseln erdulden müssen."
    Da könnte ich Professor Weißkopf beruhigen. Denen geht es nicht schlechter als ohne den Geiselnehmer. Was uns natürlich freut.
    Die Nachrichten wenden sich wieder spannenderen Orten auf dieser Welt zu. Ich verfolge die am unteren Bildrand laufenden Börsenkurse, interessiert, ob unsere Situation vielleicht schon die Kurse für die Rhön-Klinkum AG, Marseille-Kliniken AG, Mediklin-AG und die anderen börsennotierten Klinikkonzerne gedrückt hat. Hat sie nicht, die Kurse der Klinikunternehmen sind zwar gefallen, aber mit durchschnittlich minus zwei Prozent lediglich dem allgemeinen Dax-Trend für den Tag gefolgt.
    Umso mehr fallen unter den roten Minuskursen die eigentlich mageren 0,9 Prozent plus für den Pharmakonzern Alpha Pharmaceutics grün ins Auge. In der Tat beschränken sich Zugewinne an diesem Tag fast ausschließlich auf die Pharmasparte, erklärt ein Aktienprofi, der vorgestern das Abitur bestanden haben dürfte, direkt aus dem Börsensaal in Frankfurt. Alpha Pharmaceutics sei heute der Trendsetter für diesen Bereich

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