Der Vierte Tag
starkes Schlafmittel in sein Tortenstück manipuliert haben. Wäre eine gute Idee gewesen, ist uns aber leider so schnell nicht eingefallen. Nach ein paar Bissen meldet er sich zu Wort.
"Was ist mit den anderen Patienten? Kriegen die nichts?"
"Die hängen am Tropf, werden intravenös ernährt", erklärt ihm Zentis. "Bei Herrn Engels in Bett zwei liegt ein aufgeblasener Schlauch in der Speiseröhre, da geht nichts dran vorbei. Und die Komapatientin kann sowieso nichts essen."
Einen Moment überlegt der Blinde oder Nicht-Blinde, kommt dann mit einem revolutionären Vorschlag.
"Aber es ist doch Essenszeit. Stellen Sie die Infusion da nicht schneller?"
Während ich nur staune, bleibt Käthe fast die Stachelbeertorte im Hals stecken. Was immer unser Geiselnehmer sein mag, ein unzufriedener Arzt oder entlassener Krankenpfleger ist er definitiv nicht.
Im Fernsehen haben jetzt auch die Nachrichtensender ihre Leute vor Ort. Ein Reporter, den ich gestern im Nachtdienst bei einem Bericht direkt aus dem Reichstag als intimen Kenner für Renten und andere sozialpolitische Fragen erlebt habe, outet sich gerade als Experte für Polizeitaktik bei Geiselnahme in Krankenhäusern.
"Selbstverständlich will die Polizeiführung vor Ort dies nicht bestätigen, aber man kann mit den zum Teil schwerstkranken Geiseln sicher davon ausgehen, dass die Einsatzkräfte versuchen werden, die Situation in der kürzest möglichen Zeit zu lösen. Natürlich wird jeder Einsatz die ganz besondere Sachlage dieser speziellen Geiselnahme zu berücksichtigen haben."
Der Mann hätte Politiker werden sollen mit seinen Null-Aussagen, mindestens aber Regierungssprecher!
Bald wird die Polizei versuchen, direkt und über gezielte Informationen an die Journalisten den Blinden unter Druck zu setzen und zu verunsichern. Erst einmal gilt ihre Sorge aber dankenswerter Weise uns beziehungsweise den Patienten: Das Telefon klingelt, Käthe wird erlaubt, abzunehmen.
"Es ist die Polizei. Die von uns angeforderten Medikamente und Blutkonserven stehen bereit. Außerdem fragen sie, ob wir etwas zu essen brauchen."
Unser Geiselnehmer überlegt nur kurz.
"Die Medikamente sollen geliefert werden. Aber nicht von einem Polizisten, sondern von einem Krankenhausmitarbeiter, den Sie kennen. Wer könnte das sein?"
Erregte Diskussion unter uns Geiseln. Zentis will, dass Dr. Krämer das erledigt, wir lehnen ab. Der würde wahrscheinlich vor Aufregung alles fallen lassen, und wir stünden mit einer Lache Konservenblut da, vermischt mit der Infusion für Herrn Engels.
"Wie wäre es mit Professor Weißkopf?" schlägt Zentis als nächstes vor.
Zentis hat einen Riesenrespekt vor dem bulligen Weißkopf, hofft vielleicht dieselbe Reaktion bei dem Blinden. Der aber erinnert sich zum Glück an Weißkopfs polternden Auftritt von vorhin.
"Kommt nicht in Frage!"
Zentis sieht, warum auch immer, den Zeitpunkt zu klarem Widerstand gekommen.
"Doch. Das macht Professor Weißkopf. Ich bestehe darauf!"
Trotz schwarzer Brille ist eine Art Lächeln in den Zügen des Blinden erkennbar.
"Ich glaube nicht, dass Ihre Mitarbeiter das auch so sehen."
Da hat er recht. Keine Ahnung, warum Zentis ausgerechnet an diesem Punkt den Aufstand probt. Will er tatsächlich den alten Weißkopf mit einer Brechstange hier hineinstürmen lassen? Schließlich einigen wir uns auf Pfleger Johannes, von dem wir wissen, dass er im vergangenen Jahr Berliner Karatemeister geworden ist. Schlau von uns, aber nutzlos, wie sich schnell herausstellt.
"Also gut", sagt der Blinde zu Käthe. "Pfleger Johannes soll die Sachen herbringen. Er soll dabei nur mit einer Badehose bekleidet sein und seine Lieferung in der Schleuse, fünf Meter vor dieser Tür, abstellen. Von dort werden wir sie uns dann holen. Essen brauchen wir vorerst nicht."
Käthe gibt die Anordnungen weiter, will auflegen, da nimmt ihr der Blinde den Hörer aus der Hand.
"Und wenn Sie das erledigt haben, kümmern Sie sich um das Lösegeld. Ich will eine Million Euro. Sie haben bis morgen früh acht Uhr Zeit. Und merken Sie sich: Ich habe die Ausrüstung, markierte Scheine zu erkennen."
Ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, bricht er die Verbindung ab. Sein Schäferhund, offenbar ein guter Lutheraner, entlässt mit zufriedenem Gähnen einen ebenso langen wie lauten und darüber hinaus auch sensorisch eindeutig identifizierbaren Furz. Seine Mahlzeit ist beendet. Unsere auch.
Aber: Endlich liegt die Forderung unseres Geiselnehmers auf dem Tisch!
Wir
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