Der Vierte Tag
geht schon", antworte ich.
Renate zieht sich diskret zurück. Ich habe mich doch eingenässt, aber erstaunlicherweise ist es mir gar nicht peinlich. Weiter an die Heizung gelehnt, ziehe ich mir im Sitzen die jetzt nicht mehr ganz weißen Arzthosen vom Körper und pelle mich aus den Unterhosen. Wie in Trance beginne ich mich zu waschen, die Prozedur mit der Schüssel ist etwas umständlich. Vorsichtig teste ich meine Beine, die mir tatsächlich wieder gehorchen und mich, wenn auch etwas zittrig, zum Waschbecken an der Wand tragen. Hier setze ich meine Reinigung fort und vermisse die Dusche, die für das Intermediate-Zimmer geplant, aber an Platz- und wie immer an Geldmangel gescheitert ist.
Renate erscheint wieder, will mir beim Abtrocknen helfen.
"Danke, es geht schon."
Von der Taille abwärts bin ich nackt, auch das stört mich im Moment nicht. Renate hat mir ein paar unserer tollen Einmalunterhosen mitgebracht, aber eine saubere Hose sei nicht aufzutreiben, entschuldigt sie sich. Ein blauer Kittel, wie ihn sonst die Besucher auf der Intensivstation überziehen, tut es auch. Immer noch besser als eines dieser hinten offenen Patientenhemden. Und ein Besucherkittel passt irgendwie, habe ich doch gerade die Wahrheit des Satzes erfahren, dass wir nur flüchtige Gäste sind auf dieser Welt.
Ich gehe zurück zu meinen Mitgeiseln. Auch Schwester Käthe nimmt mich in die Arme, Tränen in den Augen. Zentis steht an Bett zwei und fummelt an der Sengstaken-Sonde von Herrn Engels herum, vermeidet Blickkontakt. Warum haben Renate, Käthe und Zentis die Gelegenheit nicht genutzt, als der Geiselnehmer mit mir und seinem russisch Roulette beschäftigt war? Hatte er sie wieder in Handschellen gelegt? Oder hatten sie einfach nur Angst vor den Sprengstoffpäckchen gehabt?
Das Telefon geht, uns wird mitgeteilt, dass Pfleger Johannes, der Karatemeister, mit den angeforderten Medikamenten, Infusionen und Blutkonserven das Stockwerk der Intensivstation erreicht habe.
"Gut", diktiert der Geiselnehmer Käthe, "wie gesagt: Er soll die Sachen fünf Meter vor der Tür abstellen und verschwinden."
Wenig später hören wir Pfleger Johannes. Der Geiselnehmer geht hinter dem Schaltpult in Deckung, Käthe öffnet die Tür. Da steht der Karatemeister, wie befohlen, in einer viel zu knappen roten Badehose und erinnert mich an die Fernsehbilder der Festnahme von Andreas Baader im Juli 1972. Mit angewinkeltem linkem und in unsere Richtung ausgestrecktem rechtem Arm scheint sich Johannes gerade darauf vorzubereiten, mit einem mächtigen Karate-Hechtsprung die Intensivstation zu stürmen. Käthe gibt ihm ein Zeichen, etwaige Pläne in dieser Richtung zu unterlassen.
Aus seiner Deckung heraus erkundigt sich der Geiselnehmer, ob die Lieferung vollständig sei.
"Soweit ich von hier sehen kann, ja", antwortet Käthe, noch immer in der Tür.
"Wie hat Ihr Mitarbeiter die Sachen transportiert?" will er dann wissen.
"In einem Plastikkorb."
"In Ordnung. Er soll den Korb auf dem Flur abstellen und sich entfernen. Erst dann holen Sie die Sachen herein."
Käthe ist schon auf dem Weg Richtung Korb, als der Geiselnehmer ihr nachruft: "Und, Schwester Käthe, bevor Sie den Korb hier hereinbringen: Wir brauchen nichts über die Sachen, die Sie bestellt haben, hinaus. Stellen Sie das sicher!"
Rückwärts gehend, verlässt Pfleger Johannes unser Blickfeld, während Käthe den Korb holt.
Unser Geiselnehmer, der nach meiner Beinahe-Exekution endgültig aufgehört hat, den Blinden zu spielen, kontrolliert sofort den Korb auf eventuelle Abhörgeräte oder Blendgranaten, aber auf etwas so Schlaues sind die da draußen offensichtlich nicht gekommen. Beim zweiten Nachdenken wird mir klar, dass Abhörgeräte oder Blendgranaten vielleicht auch nicht so furchtbar schlau gewesen wären.
Jedenfalls kommt Herr Engels in Bett zwei endlich zu einer neuen Blutkonserve und zu seiner angeblichen Spezialinfusion. Auch am Bett vier ist es an der Zeit, einige Infusionen zu erneuern. Diese Arbeit geht routiniert und weitgehend ohne Worte vor sich. Welche Stimmung im Moment unter uns Geiseln herrscht, kann ich nicht beurteilen. Ich stehe immer noch unter Schock, fühle mich eigentlich weniger als der oben erwähnte Gast auf dieser Welt denn als Zombie, nehme meine Umwelt wie durch eine Milchglasscheibe wahr.
Plötzlich jedoch merke selbst ich, dass die Stimmung sich ändert, die Situation angespannt ist. Was brüllt der Geiselnehmer? Irgendetwas von seinem Hund, meine ich.
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