Der Vierte Tag
Konfirmation datieren dürfte, sitzt artig hinter dem entsprechenden Namenschild. So viel zu Celines zuverlässigen Nachrichten!
Es beginnt mit der üblichen Begrüßung, Dank fürs Kommen, Entschuldigung für die Verspätung. Deshalb wolle man keine Zeit verlieren und gleich zu den Fakten kommen. Ich bemühe mich zwar, genau aufzupassen, verliere aber bald schon die Konzentration angesichts immer neuer Zahlen und Balkendiagramme, mit denen die erfolgreiche Arbeit des Managements mit den üblichen Worthülsen serviert wird: "... in diesen wirtschaftlich schweren Zeiten", "Steigerung der Kosteneffizienz", "Produktivitätssteigerung", "Bündelung der Kapazitäten" und so weiter. Mit dem Stichwort "Freisetzung" will man natürlich nicht zugeben, dass im Lauf der Produktion Giftstoffe in die Umwelt freigesetzt werden. Klar, Arbeitskräfte sind freigesetzt worden, frei für den Arbeitsmarkt. Da wird sich der Arbeitsmarkt gefreut haben! Herr Fröhlich schüttelt den Kopf, er weiß zu gut, was Freisetzung bedeutet.
Als besonderer Service wird im unteren Bildrand der aktuelle Kurs von Alpha Pharmaceutics eingeblendet, direkt aus Frankfurt. Der steht bisher fest bei 35,7 Euro, noch hat es der Vorstand nicht geschafft, mit seiner Pressekonferenz den shareholder value zu steigern.
Das soll sich gleich ändern, denn nun will man über die Zukunft sprechen, über außergewöhnliche Perspektiven, "über die unmittelbar bevorstehende Markteinführung eines Wirkstoffes, der schon in der Testphase unsere Erwartungen mehr als übertroffen hat!"
Kann man mehr als Übertreffen? Interessanter als Erwägungen zum Komparativ ist eine Kleinigkeit, die sich gerade am Konferenztisch abspielt. Eine junge Dame wechselt diskret das gedruckte Namenschild "Müller-Wohlgemuth, Leiter Forschung und Entwicklung", aus. In eiliger Handschrift heißt es nun schlicht "Dr. Salisch".
Dem wird nun auch das Wort erteilt, er berichtet über die Forschungsarbeit zu MS 234, über seine Wirkweise, sein Potential. Das macht er ganz ordentlich, aber offensichtlich säße er lieber in seinem Labor als in dieser Pressekonferenz. Schließlich verliert er sich in Details, und der Herr Vorstandsvorsitzende nutzt eine kleine Atempause, die Sache wieder an sich zu reißen.
"Denken Sie an das Potential eines solchen Wirkstoffs, meine Damen und Herren! Fünfundfünfzig Prozent aller Deutschen sind übergewichtig, das sind rund vierzig Millionen Menschen! In den letzten zehn Jahren hat sich der Anteil der übergewichtigen Kinder verdoppelt! Und denken Sie an die Folgeprobleme! Neueste Berechnungen sprechen von jährlich neunzigtausend Krebstoten pro Jahr wegen Adipositas allein in den Vereinigten Staaten! Aber wichtiger noch: Diabetes, Bluthochdruck, Herzinfarkt, Schlaganfälle! Und vergessen Sie nicht die Gelenkerkrankungen, die Arthrose! MS 234 ist unser Beitrag zur Innovations-Offensive!"
Und so weiter und so fort. Es geht also gar nicht um Marktanteile oder Gewinn, es geht um die Volksgesundheit. Die Argumentation ist bekannt. Das neue Medikament mag teuer scheinen, ist aber im Grunde billig, wenn man die Behandlungskosten der durch das Medikament verhinderten Erkrankungen gegen rechnet. Die Analysten jedenfalls haben verstanden, der eingeblendete real-time Kurs für Alpha Pharmaceutics ist schon auf 36,3 Euro geklettert, um fast zwei Prozent. An die ungleich billigere Lösung, dass fünfundfünfzig Prozent der Deutschen einfach fünfzig Prozent weniger essen sollten, glaubt zu Recht niemand. Das wäre auch nicht im Sinne von Alpha Pharmaceutics, deren Mutter zwar ein Waschmittelkonzern ist, aber vor einem halben Jahr den zweitgrößten Lebensmittelhersteller in Europa gekauft hat, Stichwort "functional food".
Natürlich werden am Ende Fragen zugelassen. Die Frage nach dem Preis des neuen Wirkstoffs könne man noch nicht beantworten, verweist aber auf die hohen Entwicklungskosten und den Wissenschaftsstandort Deutschland. Bei der nächsten Frage werde ich aufmerksam: Nein, ist die Antwort, bedeutende unerwünschte Nebenwirkungen gebe es nicht. Der Wirkstoff sei gründlichst untersucht, die Untersuchungen abgeschlossen, die Zulassung in Europa reine Formsache. Noch mehr Aufmerksamkeit widme ich der Antwort auf die nächste Frage.
"Mir fällt auf, dass der Leiter Ihrer Forschungsabteilung bei einer so wichtigen Neueinführung nicht anwesend ist. Können Sie uns dazu etwas sagen?"
Der Herr Aufsichtsratsvorsitzende ist zu seinem Posten nicht ohne die Fähigkeit
Weitere Kostenlose Bücher