Der Vierte Tag
Ecke.
"Ja, warum sollte er das machen?" fragt auch Renate.
"Weil ihr beiden hier nichts mehr tun könnt. Wir haben keine Patienten zu versorgen, und für Herrn Fröhlich ist eine Geisel leichter in Schach zu halten als drei."
Ein etwas schwaches Argument, nachdem auch drei Geiseln ihren Geiselnehmer letzte Nacht nicht überwältigt haben.
"Zwei Männer alleine sind nie gut", sagt Renate. "Ihr braucht uns, damit ihr nicht auf dumme Gedanken kommt, irgendetwas Heroisches anstellt. Habe ich nicht recht, Herr Fröhlich?"
Wieder hebt Herr Fröhlich die Schultern, ganz so, als hätte er mit dieser Entscheidung eigentlich nichts zu tun.
"Aber dann ist noch mal mindestens eine Million fällig!" meint Renate, "Wir sind doch nicht weniger Wert als die anderen!"
Irgendwie ahnen wir alle, dass dies eine ziemlich absurde Diskussion ist.
"Es ging hier doch nie wirklich um Geld, Renate", widerspreche ich. "Und sein eigentliches Ziel hat Herr Fröhlich erreicht. Also wozu sollte er euch weiter festhalten?"
Herr Fröhlich bleibt weiter stumm.
"Außerdem", fahre ich fort, "gibt es da draußen Pflichten für euch, hier drinnen nicht mehr. Käthe zum Beispiel muss sich dringend um ihre Großtante kümmern."
"Dann soll Käthe doch gehen", räumt Renate ein.
"Ich gehe nur, wenn Renate mitkommt. Sonst bleibe ich auch", verkündet Käthe.
"Ich denke, Ihr solltet beide gehen. Ihr könntet auch Stinki mitnehmen, damit der mal an die frische Luft kommt."
Herr Fröhlich fixiert mich scharf. Bin ich zu weit gegangen, ihm auch Stinki wegnehmen zu wollen? Ist Stinki nicht tatsächlich wichtig als stabilisierender Faktor?
Aber Fröhlich fragt nur: "Stinki auch?"
Gelegentlich weht ein scharfer Geruch herüber aus dem Intermediate-Zimmer. Offenbar ist es Herrn Fröhlich gelungen, Stinki hinsichtlich seiner Notdurft von ortsnaher Erledigung zu überzeugen.
"Ihre Entscheidung", beende ich mein Plädoyer.
Am Ende bleibt Herrn Fröhlich nichts übrig, als zu seinen Rechten und Pflichten als Geiselnehmer zu stehen und eine Entscheidung zu treffen.
"Stinki bleibt. Die Schwestern gehen, beide. Geben Sie das an die Polizei durch, Dr. Hoffmann."
Was ich unverzüglich tue, wobei die Art, wie ich es tue, äußerst kurz angebunden nämlich, jetzt eventuell mich auf die Polizeiliste der möglichen Komplizen von Fröhlich bringt. Was in gewisser Weise mittlerweile fast stimmt. Trotzdem, ob Fröhlich von Beginn an einen Komplizen unter uns hatte und wen, weiß ich immer noch nicht.
Mit einigen Verzögerungen gelingt es tatsächlich, die beiden Schwestern in die Freiheit zu drängeln. Während der Übergabe ist Fröhlich ganz professioneller Geiselnehmer. Er entschärft vorübergehend die Sprengstoffpäckchen an der Tür und geht dann hinter der Theke in Deckung, während ich in seinem Schussfeld stehen muss - und in dem der Polizei. Aber unmittelbar danach sitzt er mit Stinki wieder apathisch in der Ecke.
"Und nun?" fragt er mich, kaum dass sich die Tür hinter Käthe und Renate geschlossen und er seinen Sprengstoff reaktiviert hat.
Und nun was? Das fragt Fröhlich mich? Hat ein kompletter Rollentausch stattgefunden? Ich möchte ihn bei den Schultern fassen, kräftig schütteln und anschreien: "Sie sind der Geiselnehmer, nicht ich, verdammt noch mal!"
Mehr noch als bisher sehe ich den nächsten Stunden mit Sorge entgegen. Es war ein riesiger Fehler, die Schwestern fortzuschicken. Nicht nur, dass Stadt-Land-Fluss zu zweit nicht allzu spannend ist. Weitaus schlimmer fühle ich mich plötzlich alleine für Herrn Fröhlich und für ein gutes Ende der ganzen Angelegenheit verantwortlich. Es hat wirklich ein Rollentausch stattgefunden - bis auf die Tatsache, dass es nach wie vor Herr Fröhlich ist, der die Pistole hat. Selbstredend ist die Entlassung weiterer Geiseln ein Medienereignis, n-tv überträgt wieder direkt. Es wundert wenig, dass sich Mikrophone und Kameras schnell auf Renate konzentrieren. Käthe ist angesichts des Andrangs eher verschüchtert, und die attraktive Renate als Geisel lässt der Phantasie mehr Raum, Tenor 'die Schöne und das Biest'.
"Hat der Geiselnehmer Sie auch körperlich belästigt?"
"Standen Sie auch bei der Körperpflege unter Kontrolle?"
"Sind gewisse Dinge geschehen, über die Sie nicht sprechen können?"
Eine besonders witzige Frage. Wie sollte sie dann darüber sprechen? Oder tut sie es doch? Ich beobachte kurz ein mir bekanntes freches Funkeln in Renates Augen, fürchte, sie wird gleich mit einer deftigen
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