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Der vierzehnte Stein

Der vierzehnte Stein

Titel: Der vierzehnte Stein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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entdeckt zu haben.«
    »Das stimmt nicht. Er hatte seine Akte bereits angelegt.«
    »Unfair«, sagte Brézillon mit verächtlicher Miene. »Sie aber sind vor der Justiz geflohen, und ein solches Verhalten erwarte ich nicht von einem meiner Kommissare.«
    »Ich bin nicht vor der Justiz geflohen, denn sie war noch gar nicht eingeschaltet. Weder war ein Anklagepunkt vorgebracht, noch waren mir meine Rechte verlesen worden. Ich war noch ein freier Mensch.«
    »Rein rechtlich exakt.«
    »Ich war frei, genug von alledem zu haben, frei, mißtrauisch zu werden und abzureisen.«
    »Geschminkt und mit falschen Papieren, Kommissar.«
    »Nennen wir es eine notwendige Erfahrung«, sagte Adamsberg versuchsweise. »Ein Spiel.«
    »Spielen Sie oft mit Retancourt?«
    Adamsberg brach ab, das Bild des Nahkampfs schob sich vor seine Gedanken.
    »Sie hat nichts weiter getan als ihren Schutzauftrag ausgeführt. Sie hat strikt Ihre Anweisungen befolgt.«
    Brézillon drückte seine Kippe mit dem Daumen aus. Der Vater Fabrikarbeiter und die Mutter Wäscherin, so stellte sich Adamsberg vor, wie die Eltern von Danglard. Eine Herkunft, die man nicht unter samtenen Sesseln verbirgt, eine Art Schwertadel, den man im Knopfloch trägt und durch die Wahl seiner Zigarettenmarke ehrt wie auch durch eine etwas rüde Bewegung des Daumens.
    »Was erwarten Sie von mir, Adamsberg?« fuhr der Divisionnaire, sich den Daumen reibend, seinerseits fort. »Daß ich Ihnen auf Ihr Wort hin einfach glaube? Dafür steht zuviel gegen Sie. Dieser Besuch in Ihrer Wohnung stellt einen schwachen Punkt zu Ihren Gunsten dar. Wie auch Légalités Kenntnis von Ihrem Gedächtnisverlust. Zwei winzige Pluspunkte.«
    »Wenn Sie mich fallenlassen, geht die Glaubwürdigkeit Ihrer Brigade mit mir zugrunde. Solch ein Skandal ließe sich abwenden, wenn ich Bewegungsfreiheit hätte.«
    »Und ich dem Ministerium und der GRC den Krieg erkläre?«
    »Nein. Ich bitte Sie nur um die Aufhebung der polizeilichen Überwachung.«
    »Um nichts weiter? Ich habe Vereinbarungen getroffen, stellen Sie sich vor.«
    »Die Sie die Macht haben zu umgehen. Indem Sie erklären würden, daß ich mich im Ausland aufhalte. Ich werde mich natürlich weiter verstecken.«
    »Ist der Ort sicher?«
    »Ja.«
    »Was noch?«
    »Eine Waffe. Eine neue Dienstmarke auf einen anderen Namen. Geld zum Überleben. Retancourts Wiedereingliederung in die Brigade.«
    »Worin lasen Sie gerade?« fragte Brézillon und deutete auf den kleinen ledergebundenen Band.
    »Ich suchte Booz endormi.«
    »Weshalb?«
    »Wegen einiger Verse in dem Gedicht.«
    »Nämlich?«
    »Welcher Gott nur, welcher Schnitter eines ew’gen Sommers ließ im Weggehn jene goldne Sichel fallen dort im Sternenfeld.«
    »Wer ist die goldne Sichel?«
    »Mein Bruder.«
    »Oder im Moment auch Sie selbst. Die Sichel ist nicht nur der gütige Mond. Sie schneidet auch. Sie kann einen Kopf abschlagen, einen Bauch aufschlitzen, sanft oder brutal. Eine Frage noch, Adamsberg. Sie zweifeln nicht an sich?«
    An der Art und Weise, mit der Brézillon sich vorneigte, konnte Adamsberg erkennen, daß diese alltägliche Frage von entscheidender Bedeutung war. Von seiner Antwort hingen Auslieferung oder Bewegungsfreiheit ab. Er zögerte. Logischerweise könnte Brézillon eine feste Zusicherung wollen, die ihn vor Ärger schützte. Doch Adamsberg unterstellte ihm, daß er etwas vollkommen anderes erwartete.
    »Ich verdächtige mich in jeder Sekunde«, antwortete er.
    »Der beste Garant für einen Menschen und einen ehrlichen Kampf«, sagte Brézillon trocken und lehnte sich in seinen Sessel zurück. »Von heute abend an sind Sie frei, bewaffnet und unsichtbar. Nicht für alle Ewigkeit, Adamsberg. Für sechs Wochen. Wenn die Zeit abgelaufen ist, kommen Sie hierher zurück, in dieses Zimmer, in diesen Sessel. Und klingeln Sie beim nächsten Mal, bevor Sie eintreten.«

43
     
    Jean-Pierre Emile Roger Feuillets letzte Aufgabe war es, ein neues Mobiltelefon zu besorgen. Dann entledigte sich Adamsberg unter Clémentines Dusche mit großer Erleichterung dieser Identität. Doch auch mit einem gewissen Bedauern. Nicht, daß er diesen etwas gedrungenen Menschen besonders gemocht hätte, doch er fand es leichtfertig, Jean-Pierre Emile, der ihm so viele unschätzbare Dienste erwiesen hatte, in einem dünnen Strahl weißen Wassers einfach so abfließen zu lassen. Also huldigte er ihm kurz, bevor er zu seinem braunen Haar, seiner Figur und der gewohnten Hautfarbe zurückfand. Blieb nur die

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